Im imaginären Geisterzimmer – ein kleines Editorial

Wer an die frische Luft möchte in diesen Tagen, geht am besten in digitale Räume. Hier warten grössere Abenteuer als draussen vor der Tür. Noch anders war das zu Zeiten des 1956 verstorbenen Schweizer Schriftstellers Robert Walser. „Eines Vormittags, da mich die Lust, einen Spaziergang zu machen ankam, setzte ich den Hut auf den Kopf, lief aus dem Schreib- oder Geisterzimmer weg und die Treppe hinunter, um auf die Strasse zu eilen.“ So beginnt Walsers berühmtes Prosastück „Der Spaziergang“. Walser streift im Text durch ein Städtchen. Lässt sich treiben. Und macht gerade so Entdeckungen an allen Strassenecken.

Soll es uns nun auf unsern Streifzügen durch Jazz und Pop nicht ebenso ergehen wie Robert Walser? Allerdings, wir bleiben im Geisterzimmer zuhause. Wer herumstreift in digitalen Weiten, stösst am Wegesrand auf unendlich viel Spannendes zu Jazz und Pop.

Meine Streifzüge sind unsystematisch, fragmentarisch. Dabei nicht zufällig. Ich hangle mich der Chronologie von Jazz und Pop entlang durchs Netz. Und auch nicht nur durchs Netz. Sondern oft auch durch geduldiges Buchpapier.

Meine Notizen mit ihren hunderten von integrierten Fotos, Klangbeispielen, Videos richten sich zuerst an Musikstudierende der Zürcher Hochschule der Künste. Ergänzend zu den Wochenlektionen meines Jahreskurses „Einführung in den Jazz und Pop“ und abgestimmt auf sie, geben die Streifzüge Gelegenheit weiterzuflanieren. Das dauert pro Streifzug nicht allzulange. Darf spielerisch sein, gar mal leise abgefahren (das Grundwissen bringt der Basiskurs). Dennoch wollen wir nicht auf dem Boulevard landen. Uns beschäftigt aus heutiger Sicht Relevantes – wie etwa: Warum löste der Jazz im alten Europa um 1920 ein heute kaum mehr vorstellbares Beben aus? Warum verabscheute Jahrhundert-Philosoph Theodor W. Adorno Jazz und Rock? Und was holte Rockgitarrist Eric Clapton sich bei den alten Country-Bluesern?

Seien wir bei unseren Streifzügen fasziniert von der Musik, wie der französische Dichtermusiker Serge Gainsbourg es war. Gainsbourg nimmt uns im Lied „Jazz in der Bergschlucht“ (1958) auf eine Autofahrt mit. „Hör mal, fährst Du oder ich, schnauzt Gainsbourg. „Ich fahre, halt die Klappe.“ Und meint dann: „Hörst Du’s? Mein Lieblingssender / Dreh das Radio ein wenig lauter.“

Drehen wir das Radio lauter.

Christoph Merki

 


Serge Gainsbourg: «Du jazz dans le ravin» (1958) (Youtube, 3:55).

 

Zum Umgang mit diesen Seiten

Jeder Streifzug ist abgestimmt auf ZHdK-Musikgeschichts-Lektionen von Christoph Merki.

Die Streifzüge bringen in aller Regel nicht das Grundwissen; sie gehen von diesem Grundwissen aus.

Die Streifzüge erstrecken sich bis 1950 und werden bei Gelegenheit ergänzt bis in die Gegenwart.
Um den Text nicht unnötig zu beschweren, verzichte ich zumeist auf Fussnoten und Autorenverweise bei den Zitaten. Die Zitate entstammen einschlägiger Sekundärliteratur, die am Ende jedes Streifzugs separat unter den Text gestellt ist. Exakte Zitatnachweise? Bei Bedarf persönlich bei Christoph Merki.

Titelbild

Jeff Walls Fotoinszenierung „The Invisible Man“ bezieht sich auf den gleichnamigen Roman von Ralph Ellison, 1952. Darin hört der Hauptdarsteller in seinem Kellerzimmer Louis Armstrongs „What Did I Do To Be So Black and Blue“.

Dank

Ein Dank geht an den Musikarchivar Christian Schorno (Musikzimmer.ch) sowie an Jazztrompeter Daniel Schenker (DanielSchenker.ch) für den computer-technischen sowie musikfachlichen Austausch im Zusammenhang mit diesen Streifzügen.

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