Streifzug 10: Saxofon-Erotik

Duke Ellington, Teil 3: Wie Saxofonist Johnny Hodges bei Ellington zum Chef-Erotiker wurde

Duke Ellington sah sich als Kopf eines Kollektivs – aber er holte aus den Musikern seines Orchesters auch das Beste für sie selber heraus. Ein Manipulator. Zugleich ein Geburtshelfer.

 

Inhalt

  1. Ellington, c’est les autres oder Erotik mit Johnny Hodges
  2. Daheim im Kopf von Ellington: Billy Strayhorn

Ellington, c’est les autres oder Erotik mit Johnny Hodges

Sehen wir das Orchester Ellingtons am besten als einen menschlichen Organismus: die Musiker, sie sind die Glieder. Aber was sind Glieder ohne Kopf? Ellington, er ist der Kopf.

Der typische Ellington-Sound entstand dadurch, dass der Duke seinen hochindividualisierten Musikern Stücke „auf den Leib“ schrieb.

The Band is the Duke!

Ellington – c’est les autres!

Unverwechselbare Musiker wie Trompeter Bubber Miley und Posaunist Sam Nanton prägten mit ihrer Dämpfertechnik schon den „Jungle Sound“ des ganz frühen Ellington in den 1920ern.

 

Der Duke realisierte sich über seine Band.

Der Duke realisierte sich über seine Band.

 

Sexy Altsax

Vielleicht der wichtigste unter Ellingtons Musikern war Johnny Hodges (1907–1970). Er spielte über Jahrzehnte hinweg das Lead-Alto bei Ellington – und viele Soli.

Was für ein unnachahmlicher Spieler Hodges in langsamen Stücken war! Er führte einen Ton zum andern in stufenlosem Glissando, so sanft, als würde er Zugposaune spielen. Nichts, aber auch gar nichts war grobschlächtig in seinem Spiel: alles so sanft, alles so unendlich nuancenreich und samten!

 

Einer der grossen Balladeure der Jazzgeschichte – Johnny Hodges.

Einer der grossen Balladeure der Jazzgeschichte – Johnny Hodges.

 

Dabei: Hodges, auch unterm Beinamen „Rabbit“ bekannt (Hase), wirkte sonst gar nicht zum Verlieben. Er spielte sublimste Seelenmusik mit dem versteinerten Gesicht einer Salzsäule. Seine Persönlichkeit war schwierig, arrogant, widerborstig. Er schien immer ärgerlich zu sein, und der Klarinettist Barney Bigard ebenfalls in der Ellington-Band konnte ihn nicht leiden: „Er sah immer so aus, als wenn ihm Lachen weh tue.“ Und doch: Ellington-Biograf Collier spricht von der „wogenden, sexuellen Wärme seines Sounds“.

Uninformierte Zeitgenossen gibt es heute, die halten die blond gemähnte holländische Saxofonistin Candy Dulfer für die Verkörperung eines sexy Altsax. Nichts könnte falscher sein. Der wahre Meister des sexy Altsax ist der knorrige Johnny Hodges.

 

Johnny Hodges und Candy Dulfer im visuellen Direktvergleich: Hodges, beinlos. Dulfer, gesichtslos.

Johnny Hodges und Candy Dulfer im visuellen Direktvergleich: Hodges, beinlos. Dulfer, gesichtslos.

 

„Ellington sagt, Hodges entlocke seinem Altsaxofon einen Sound, ‚dessen Schönheit einem Tränen in die Augen treibt’. Die Frau eines Musikers von Ellington, die ihren Namen nicht preisgeben will, findet dafür andere Worte: ‚Jedes Mal, wenn ich Hodges spielen höre, möchte ich die Tür zu meinem Schlafzimmer aufmachen.’ (Uwe Wiedenstried)

In folgenden Videobeispielen spielt Hodges klassische Strayhorn/Ellington-Balladen wie „Isfahan“, „Passion Flower“ und „Daydream“. Ganz bezaubernd!

 


Johnny Hodges: «Isfahan» (YouTube, 4:34).

 


Johnny Hodges: «Passion Flower … Timon of Athens» (YouTube, 5:39).

 


Johnny Hodges: «Daydream» (3:56).

 

Daheim im Kopf von Ellington: Billy Strayhorn

Der engste Partner Ellingtons war sein Mitkomponist Billy Strayhorn, ein musikalischer Riese von nur 1, 60 Meter Körpergrösse.

 

Sie waren im Kreativen ganz vertraut miteinander – und machmal zog der Duke nicht mal den Bademantel ab, wenn er sich an die Arbeit mit seinem Alter Ego Billy Strayhorn machte.

Sie waren im Kreativen ganz vertraut miteinander – und machmal zog der Duke nicht mal den Bademantel ab, wenn er sich an die Arbeit mit seinem Alter Ego Billy Strayhorn machte.

 

Ist es möglich, dass zwei Menschen künstlerisch eineiig sind? Strayhorn war nicht nur die rechte Hand von Ellington von 1939 bis zu seinem Tod 1967. Er war sein zweites Hirn. Selbst die Musiker im Ellington-Orchestra konnten nicht unterscheiden, welche Pièce vom Duke selbst, welche von Strayhorn stammte. Wir stehen vor der verstörenden Wahrnehmung, dass selbst künstlerische Individualität nicht unteilbar ist.

Ellington erzählte folgende Geschichte zu Billy Strayhorn: „Unser Verhältnis war ganz eng. Als ich mein erstes ‚Sacred Concert’ schrieb, war ich in Kalifornien und er im Krankenhaus in New York. Ich sagte ihm am Telefon … er solle etwas schreiben. ‚Introduktion, Ende, schnelle Übergänge’. Ich sagte: ‚Der Titel sind die vier Worte aus der Bibel – Am Anfang war Gott.’ er hatte mein Thema nicht gehört, aber was er nach Kalifornien schickte, begann mit der gleichen Note wie meines (F) und endete mit der gleichen Note wie meines (As, eine Zehnte höher). Von den sechs Noten, die die sechs Silben der vier Worte repräsentieren, waren nur zwei abweichend.“

 


Duke Ellington: «A Concert Of Sacred Music» (1965 premiere performance) (YouTube, 58:57) – Mitschnitt der Uraufführung des ersten „Concert of Sacred Music“ 1965 in der Grace Cathedral in San Francisco. „In The Beginning God“ beginnt bei 15.59. Man höre auch das umwerfende „Come Sunday“ bei 43.56.

 

Aus Scott Deveaux/Gary Giddings:

„Ellington’s devoted partner in all this late activity was the ingeniously protean yet personally reserved Billy Strayhorn, a composer in his own right as well as Ellington’s co-composer, rehearsal pianist, deputy conductor, and occasional lyricist. He was Ellington’s closest associate for twenty-eight years, the one man to whom any musical task could be reliable delegated. His first ‚classic tune’, „Lush Life“, written as a teenager, reflected his love of densely chromatic music and his sense of isolation as a black man who refused to compromise his homosexuality. (Ellington said the song brought him to tears.)“

 

Billy Strayhorn war ein defensiver Mensch, der gern auch für sich oder mit dem Klavier allein war. Doch vor der Ellington-Band, so berichtete Produzent George Avakian, konnte er auch beträchtliches Durchsetzungsvermögen zeigen, wenn es darum ging, etwa seiner Komposition „Satin Doll“ die Endgestalt zu geben.

Billy Strayhorn war ein defensiver Mensch, der gern auch für sich oder mit dem Klavier allein war. Doch vor der Ellington-Band, so berichtete Produzent George Avakian, konnte er auch beträchtliches Durchsetzungsvermögen zeigen, wenn es darum ging, etwa seiner Komposition „Satin Doll“ die Endgestalt zu geben.

 

„The two composers worked so closely, sharing insights and completing one another’s phrases, that it is often impossible to separate their work. Most of the major works, including the larger suites from the 1950s, carry both their names as composers. A significant number of pieces were the work of Strayhorn alone: ‚Satin Doll’ (Ellington’s last pop hit), ‚Chelsea Bridge’, ‚A Flower Is a Lovesome Thing’, ‚Day Dream’, ‚Rain Check’, ‚Something to Live For’, and ‚Lotus Blossom’ among many others.“

Hier eine Live-Performance: Billy Strayhorn als Sänger-Pianist in seinem Masterpiece „Lush Life“.

 


Billy Strayhorn: «Lush Life!» (YouTube, 3:36).

 

Ellington-Biograf James Lincoln Collier sagt zu Billy Strayhorn: „Es ist unmöglich zu sagen, was Strayhorn in dieser Zeit [um 1940 ist gemeint, als Strayhorn zu Ellington stiess] zu Dukes Musik beitrug. Es war jedoch eine Menge, nicht nur an direkt von ihm geschriebener Musik, sein Beitrag bestand auch in seinem breiten Einfluss, den er in bezug auf Richtung und Geschmack ausübte. Strayhorn war unter anderem an den impressionistischen französischen Komponisten interessiert und brachte Ellington ganz bewusst auf Kunstgriffe, von denen die Leute annahmen, Ellington würde sie seit Jahren kennen. Ausserdem war er besser ausgebildet als Ellington und konnte nach der Partitur beurteilen, wie die Musik klingen würde.“ Collier kommt aber doch zum Schluss, dass die Ellingtonsche Musik doch vor allem geprägt war von – Ellington. „Wir können sicher sein, dass Strayhorn Ellington zwar beeinflusste und ohne Zweifel auch zu dessen Stil beitrug bzw. manches möglicherweise änderte – doch die Essenz war immer Ellington.“

 

Playliste

Eine einstündige Zusammenstellung der wichtigsten Stücke von Strayhorn (in Klammern sind die Interpreten angegeben).

 


Billy Strayhorn: «The Songbook of Billy Strayhorn – Portrait of an Exceptional Musician» (YouTube, 1:06:20)
1. Lush Life’ (Clifford Jordan)
 – 00:00
2. Raincheck (Duke Ellington)
 – 05:12
3. Chelsea Bridge (Duke Ellington)

 – 07:42
4. I don’t Mind (Ivie Anderson & Duke Ellington)

 – 10:36
5. Johnny Come Lately (Duke Ellington)

 – 13:27
6. My Little Brown Book (Herb Jeffries & Duke Ellington)

 – 16:07
7. Take the A Train (Duke Ellington)

 – 19:18
8. Clementine (Duke Ellington)

 – 22:13
9. After All (Duke Ellington)

 – 25:09
10. Just a Settin‘ and a Rockin‘ (Duke Ellington)

 – 28:31
11. I’m Checkin‘ Out Goom‘ Bye (Ivie Anderson & Duke Ellington)

 – 32:06
12. Kissing Bug (Ella Fitzgerald & Duke Ellington)

 – 33:56
13. Perfume Suite 1 (Duke Ellington)

 – 36:58
14. Perfume Suite 2 (Duke Ellington)
 – 41:50
15. I Want Something to Live for (Ivie Anderson & Duke Ellington)

 – 47:02
16. Sweet and Pungent (Duke Ellington)

 – 49:53
17. Grievin‘ (Duke Ellington)

 – 53:55
18. Portrait of Billy Strayhorn (Duke Ellington)
 – 56:49
19. Tonk – (Billy Strayhorn & Duke Ellington)
 – 59:48
20. Chelsea Bridge (Tommy Flanagan)
 – 1:02:36

 

Literatur

Cover: James Lincoln Collier: Duke Ellington – Genius des JazzBuchtipp
Duke Ellington: Music Is My Mistress – die Autobiografie (Da Capo Paperback 1976).

In seiner Autobiografie „Music Is My Mistress“ erzählt der Duke auf rund 500 Seiten in höflicher Weise von seinem Leben. Höflich? Das Buch ist nicht übertrieben selbstkritisch, man hat den Eindruck, dass Ellington viel Unliebsames umschifft – und auch hier harmonische Töne sucht. Doch in vielen Kapiteln erzählt Ellington von seinen Musikern, von Ben Webster bis Johnny Hodges; die Kapitel sind meist auch ganz schlicht mit deren Namen überschrieben. Und die Charakterisierungen Ellingtons, wenngleich nicht mit der scharfen Feder eines professionellen Schreibers geschrieben, bieten einen einmaligen Einblick in die Vita dieser Musiker. First hand experience!

Verwendete Literatur

[1]
Scott DeVeaux/Gary Giddins: Jazz – Essential Listening (2011, New York).
[2]
The Duke Ellington Reader (Oxford, 1993).
[3]
David Hajdu: Lush Life: A Biography of Billy Strayhorn (Northpoint 1996).
[4]
Diverse Artikel von Peter Rüedi in der „Weltwoche“ zu Ellington.
[5]
Uwe Wiedenstried: Yeah, man! Wilde Jahre des Jazz (Berlin 2005).
[6]
Hans-Jürgen Schaal – Jazz-Standards. Das Lexikon. ( (2001, Kassel).
[7]
James Lincoln Collier: Duke Ellington – Genius des Jazz (Ullstein / 1987).