Die Hochgeschwindigkeits-Kunst von Charlie „Bird“ Parker
Bebop? Das heisst zumeist: Tempo,Tempo, Tempo! Und keiner konnte, wenn er denn wollte, schneller spielen als Charlie Parker (1920-1955). In diesem vierzehnten Streifzug hören wir, wie der Altsaxofonist in seiner Jugend fünfzehn Stunden täglich übte, im Kopf mit „digitaler Geschwindigkeit“ (Stanley Crouch) funktionierte. Filmdokumentationen führen ins Leben des Bebop-Überschallfliegers ein. Wir erfahren auch, wie Parker etwa bei Anthony Braxton oder bei der New Yorker Gruppe Supersax weiterlebte nach seinem Tod.
Inhalt
- Charlie Parker: Entdeckung der Hochgeschwindigkeit
- Hörempfehlungen
- Dokfilme
- Weitere Materialien zu Parker
- Ein Stück Nachleben

Wenn Charlie Parker (r.) solierte, blieb dem pausbäckig spielenden Trompeter Dizzy Gillespie (l.) die Spucke weg! Gillespie überliess das erste Solo meist Parker, weil er sich so inspiriert fühlte fürs eigene Solo danach.
1 Charlie Parker: Entdeckung der Hochgeschwindigkeit
Artikel zum fünfzigsten Todestag Charlie Parkers
Eine furiose Musik, ein extremes Leben: Vor fünfzig Jahren ist der Bebop-Saxofonist Charlie «Bird» Parker gestorben – von Christoph Merki, Tages-Anzeiger, 12. März 2005
Selbst sein Tod hatte noch etwas Improvisiertes. Am 9. März 1955 stattet Charlie Parker, der eigentlich auf dem Weg zu einem Konzert nach Boston ist, seiner Förderin Baronin Nica de Koenigswarter einen Überraschungsbesuch ab. Er leidet an Magenschmerzen, an Schwindel. Drei Tage später stirbt er im Apartment der Baronin – vor dem Fernseher, wo gerade die Show des berühmten Swing-Posaunisten Tommy Dorsey läuft, dessen seidigen Klang Parker immer so sehr liebte. Besonders jenen Dorsey von «I’m Getting Sentimental Over You».
«Bopkönig stirbt im Apartment reicher Erbin» schrieb die amerikanische Presse tags darauf. Und tatsächlich verabschiedete sich mit Charles Christopher Parker eine überaus einflussreiche Figur aus der Jazzwelt: Der Bebop, dessen hauptsächlicher Erfinder der 1920 in Kansas City geborene schwarze Musiker war, sollte zur Keimzelle fast aller folgenden Jazz-Stilrichtungen werden.

Allenthalben wurde der Tod Parkers vermeldet – hier im britischen Melody Maker, der ältesten Musikzeitschrift auf der Welt überhaupt.
Es gibt also einen Jazz vor Parker und einen Jazz nach Parker – dennoch ist es ein halbes Jahrhundert nach seinem Ableben recht ruhig um diesen Musiker geworden. Zu gross ist die Fülle der ihm gewidmeten biografischen und stilanalytischen Studien, als dass ein Autor sich noch eine neue Sichtweise zugetraut hätte. Und selbst die entlegensten Mitschnitte sind bereits auf Platte erschienen.
«Neurotisch», «degeneriert»
Parkers Musik ist zumeist nicht vom seidigen Klang eines Tommy Dorsey. Man höre «KoKo», eingespielt am 26. November 1945, eines der Schlüsselstücke aus Parkers Gipfelzeit zwischen 1944 und 1947. «Das ist nicht die Art von Musik, die man oft hören möchte: Sie ist beunruhigend, wie auch manche Werke Schönbergs beunruhigend sind», schrieb Ross Russell, der erste Biograf Parkers. Gar als «neurotisch», «degeneriert», «antihumanistisch» etikettierte die zeitgenössische amerikanische Jazzpresse diese Bebop-Töne.
Horrend schnell ist «KoKo». Und Geschwindigkeit sowie Dichte sind die auffälligsten Merkmale überhaupt von Parkers Stilistik. Mit dem Bebop ziehen diese beiden Parameter in bisher ungekannter Kompromisslosigkeit in den Jazz ein. Sie prägen ihn bis heute – zur Freude der einen, zum Leidwesen der anderen, die den ganzen modernen Jazz für viel zu kompliziert halten. Im behäbigen Swing der 1930er-Jahre dominierten noch eingängige Melodien, das brodelnde «Ko Ko» aber besteht fast nur aus vorwärts stürmenden Improvisationen.

„Ko Ko“ von 1945: Als die Single erschien, waren die Jazzfans weltweit frappiert von der Tempojagd auf der Aufnahme.
Unberechenbarer Künstler
Wie eine einzige Improvisation liest sich auch die Biografie Parkers. Genauso wie durch seine Musik hat sich der Altsaxofonist – viermal verheiratet, fünf Kinder, mit 34 gestorben – durch ein Rock-’n‘-Roll-Leben avant la lettre ins Gedächtnis eingegraben. Clint Eastwood hat das Thema in seinem Film «Bird» (1988) aufgegriffen. Parker war ein unberechenbarer Künstler. Sex- und fresssüchtig, schlimm drogenabhängig. Bei seinem Tod diagnostizierte der Arzt gleich mehrere Todesursachen, vom Magendurchbruch über die Herzattacke bis zur Leberzirrhose. Er schätzte Parkers Alter auf 54 Jahre.
Zu seinen Lebzeiten interessierten sich alle möglichen intellektuellen Gegen- und Subkulturen für diesen Feuervogel am Saxofon. Berühmt geworden ist ein Bild von 1949, das Parker in Paris auf einem Sofa gemeinsam mit Boris Vian und Juliette Gréco zeigt. Parker, der den Existenzialismus lebte, traf auch mit Jean-Paul Sartre zusammen, wusste aber wenig mit diesem anzufangen. «Hi, I like your music», soll Bird den Dichter gegrüsst haben.
Im Taxi komponiert
Der Mann, der als Hipster par excellence galt, hatte durchaus auch eine Sehnsucht nach einem bürgerlichen Leben. Schon 1946, erinnert sich Ross Russell, habe Parker ihm seine Vision eines kultivierten Lebensstils geschildert. Der Saxofonist nahm einige Kompositionsstunden bei Edgar Varèse, der wie er im Süden Manhattans wohnte. Er hat bekannte Themen komponiert wie «Confirmation» oder «Blues For Alice». «KoKo» indes zeigt Parker typischerweise als Improvisator, und auf sein überragendes Können als frei agierender Solist gründet sich generell auch sein Ruhm. Ihm lag das Improvisierte näher als das planvoll Organisierte. Das wird schon durch die Umstände deutlich, unter denen zahllose, heute als Standards betrachtete Parker-Themen entstanden sind: im Taxi, auf dem Weg zum Aufnahmetermin, oder erst im Studio selbst.
Neu war bei Parker, dass ein schwarzer Musiker des Nachtklubmilieus eine komplexe Musik schuf, die als Kunst ernst genommen werden wollte. Die Bebopper sahen sich – im Gegensatz zu den früheren Jazzern – nicht mehr als Entertainer, nahmen auch eine Entfremdung vom Publikum in Kauf. Dizzy Gillespies Satz «I play for musicians only» geht durchaus in die Richtung von Arnold Schönbergs Verein für musikalische Privataufführungen. Wie sagte doch Parker sarkastisch, als das Publikum ihm einmal nach einem besonders gelungenen Solo lautstark zujubelte: «Vielen Dank. Mässiger Applaus ist völlig ausreichend.»
Er pfeilt, rast, jagt
Am 29. September 1949 spielte Dizzy Gillespie erstmals mit einer eigenen Gruppe in der berühmten New Yorker Carnegie Hall – mit dabei war: Charlie Parker. In „Dizzy Atmosphere“ pfeilt, rast, jagt Parker in horrendem Tempo durch die Akkordfolgen. Wahrlich, ein Virtuose!
Charlie Parker and Dizzy Gillespie: «Dizzy Atmosphere» (1949) (YouTube, 4:07).
2 Hörempfehlungen
Massgeblich im Oeuvre Parkers sind die Studioaufnahmen, die der Saxofonist in den 1940er-Jahren für Savoy einspielte mit seinem Quintett mit Miles Davis und Max Roach. Ferner die Dial-Aufnahmen, die Birds kalifornischen Zusammenbruch dokumentieren (Complete Savoy & Dial Studio Sessions, Savoy 17079).

Charlie Parker: «Complete Savoy & Dial Sessions». 8 CDs, Definitive Records DRCD 44402, 2001.
Die Titel, die Parker für „Bird With Strings“ in den frühen 1950er-Jahren aufnahm, sind allein schon deshalb von Bedeutung, weil Parker sie für seine hervorragendsten hielt. In jedem Fall hören wir den Bebop-Pionier wie sonst nie: im Verbund mit samtenen Streichern.

Charlie Parker and Strings at Birdland 1951.

Charlie Parker With Strings: «Charlie Parker With Strings». LP: Clef Records MG C-675, 1955.
3 Dokfilme
Der einstündige Dokfilm „Celebrating Bird“ des bekannten US-Jazzschriftstellers Gary Giddins im Folgenden:
Gary Giddings: „Celebrating Bird“ (1987) (YouTube, 58:19). Gegenwärtig leider nicht verfügbar.
Weiteres exzellentes Dok-Material zu Parker – ein 25 Minuten dauernder Ausschnitt:
MSUM Jazz History class: Jazz History Lesson Charlie Parker / Dizzy Gillespie (2016) (YouTube, 25:37).
Eine vierteilige BBC-Radiosendung über Charlie Parker aus dem Jahr 2012, jeder Teil eine halbe Stunde lang:
BBC Radio 2: «BIRD SONG» THE CHARLIE PARKER STORY (2012) (YouTube, 4 x 30:00) – BBC-Radiosendung über Parker in vier Teilen.
Weitere Materialien zu Parker
Parker im Originalinterview 1954 mit Paul Desmond: „Ich übte drei, vier Jahre lang elf bis fünfzehn Stunden täglich.“
Charlie Parker interviewed by Paul Desmond (1954) (YouTube, 4:39).

Bei Charlie Parker war alles immer intensiv – nicht nur übte er in jungen Jahren täglich 13 Stunden, er war auch stets ein unersättlicher Esser.
Coleman Hawkins wirkt im Kontrast zum flinken Parker wie ein schwerfälliger Dinosaurier.
Charlie Parker & Coleman Hawkins (1950) (YouTube, 4:29).
Parker-Biograf Stanley Crouch sagt, Parker habe im Kopf mit „digitaler“ Geschwindigkeit funktioniert.
PBS NewsHour: «Stanley Crouch recounts rise of Charlie ‚Bird‘ Parker» (2013) (YouTube, 6:46).
5 Ein Stück Nachleben
Ein Stück Nachleben Parkers, zum Ersten: Parker wird immer mit immenser Leichtigkeit assoziiert werden! Wie ein Vogel erhob er sich in seinen Improvisationen in die Lüfte, spielte scheinbar schwerelos. Auf vielen Plattencovers wird dieser Aspekt von „Bird“ aufgenommen:
Ein Stück Nachleben Parkers, zum Zweiten: Spielen auf dem weissen Plasiksaxofon von Parker, der englische Saxer Peter King macht’s vor! Wie fühlt es sich wohl an, wenn man weiss: Jetzt spiele ich auf dem Horn von Bebop-König Charlie Parker? Peter King spielt ganz unbeeindruckt!
Masuhiko Tsuji: „Peter King with Charlie Parker Alto“ (1994) (YouTube, 8:07).
Ein Stück Nachleben Parkers, zum Dritten: Anthony Braxton und sein „Charlie Parker Project“. Braxton zerdehnt, zersplittert, ja zerstört das Original «Hot House» beinahe – gibt ihm einen ganz und gar modernen, avantgardistischen Dreh.
Anthony Braxton: «Hot House» (2004) (YouTube, 15:06).
Ein Stück Nachleben Parkers, zum Vierten: Die New Yorker Gruppe Supersax spielt Parker-Soli im Satz nach – hier der Klassiker «Parkers’ Mood».
Supersax: «Parkers Mood» (1973) (YouTube, 3:32).
Ein Stück Nachleben Parkers, zum Fünften: Beat-Dichter Jack Kerouac in einem Gedicht über Charlie Parker, aufgenommen nach dessen Tod. Der legendäre Hipster Kerouac verehrte Parker wie einen Gott und stellte in hier in seinen Lyrics auf die Stufe Beethovens (höre 1.37); in seiner Literatur kommt Parker immer wieder vor; und Kerouac versuchte gar seine Texte zu erimprovisieren wie ein Jazzimprovisator à la Parker – auch Kerouacs langer, heute von manchen kultisch verehrter Buchtext «On the Road» (1957) war von den Produktionsprozessen her an der Schnelligkeit der Kreation bei Parker orientiert.
Jack Kerouac on Charlie Parker (YouTube, 3:42).
Literatur
Buchtipps
Ross Russell: Bird Lives! The High Life and Hard Times of Charlie Parker, Charterhouse, New York, 1973) (Deutsch im Hannibal-Verlag). Ross Russel hatte zwischen 1946 und 1947 Aufnahmen Parkers produziert, und er publizierte die erste Biografie über Parker, geschrieben in romanhaftem Stil.
Wolfram Knauer: Charlie Parker (Reclam, 2014). Das Büchlein umfasst knappe 200 Seiten und führt aktuell und bestens ins Thema ein. Wer’s genauer wissen und mehr lesen will: Auf Seite 199f. findet sich ein Abriss über die gesamte bis anhin erschienene Literatur zu Parker – von Ross Russells „Bird Lives!“ bis hin zum Titel von Peter Niklas Wilson (deutscher Jazzautor). Enthalten ist in Knauers Buch auch eine übersichtliche Aufschlüsselung der gesamten Musik Parker (Werkschichten/Recording Sessions).
Verwendete Literatur
- [1]
- Scott DeVeaux: The Birth Of Bebop – A Social and Musical History (1999). Die umfassendste Studie zum Bebop. Fast 600 Seiten stark.
- [2]
- Verschiedeneste Radiointerviews sowie Filmdokumentationen wie angegeben im Lauftext.