Streifzug 2: Liebe und Hass

Jazz spaltet um 1920 die Hörer in Freunde und Feinde

Inhalt

  1. Die ersten Tonaufnahmen des Jazz, 1917
  2. Reaktionen auf den frühen Jazz: Liebeserklärungen und Hassbekundungen

1 Die ersten Tonaufnahmen des Jazz, 1917

Die ersten Tonaufnahmen des Jazz – mit der Original Dixieland Jazz Band, 26. Februar 1917: „Livery Stable Blues“ und „Dixieland Jass Band One-Step“

 

Fünf Musiker bildeten die Original Dixieland Jazz Band (ODJB), die die erste Jazzplatte einspielte – am Kornet Nick LaRocca, an der Klarinette Larry Shields, an der Posaune Eddie Edwards.


Fünf Musiker bildeten die Original Dixieland Jazz Band (ODJB), die die erste Jazzplatte einspielte – am Kornet Nick LaRocca, an der Klarinette Larry Shields, an der Posaune Eddie Edwards. Fünf Musiker bildeten die Original Dixieland Jazz Band (ODJB), die die erste Jazzplatte einspielte – am Kornet Nick LaRocca, an der Klarinette Larry Shields, an der Posaune Eddie Edwards.

 

Die weisse Original Dixieland Jazz Band aus New Orleans hatte im Januar 1917 ein Engagement im New Yorker Restaurant Reisenberger’s angetreten. Sie wurde zum Stadtgespräch in New York! Die Schallplattenfirma Victor wollte bald Aufnahmen machen mit der Band.

 

First Eastern Apperance of Famous Original Dixieland Jazz Band, February 2 1917 - New York Tribune.

 

Der „Livery Stable Blues“ und der „Dixieland Jass Band One-Step“, die als erste Tonaufnahmen des Jazz gelten, brachten typischen New-Orleans-Jazz als „kontrapunktischen Stil mit Kornettführung, während die Klarinette sich auf- und abwärts durch die Melodie bewegte und die Posaune für den letzten Schliff sorgte.“

 

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Die Original Dixieland Jazz Band spielt sogenannten Novelty-Jazz: „Eine frühe Form des Jazz, die mit komischen Effekten operierte (z.B. Nachahmung von Tierstimmen, Verwendung von Autohupen.“ Das Derbe spielt eine grosse Rolle. Jazzkritiker James Lincoln Collier spricht gar von der Effekthascherei der ODJB. Und Jazzautor Geoffrey C. Ward meint: „ Nick LaRocca liess sein Kornett tatsächlich wiehern wie ein Pferd, Larry Shields krähte mit seiner Klarinette wie ein Hahn und Daddy Edwards liess seine Posaune muhen. Niemand improvisierte: Jede Note war mit Bedacht im Voraus ausgearbeitet worden.“ (Ward, Jazz, 64)

Man hört eine Kollektivmusik – noch ohne eigentliche Soli einzelner Instrument. Aber immerhin: Breaks unterbrechen die kollektive Darbietung. Besonders in solchen Breaks lassen die Instrumentalisten Witz ausbrechen.


Original Dixieland Jazz Band: «Livery Stable Blues» (1917) (YouTube).

 

Schellack Platte Victor 18255

Schellack Platte Victor 18255

Die Musik war „ ‚heisser’ und lebendiger als alles, was je zuvor aufgenommen worden war – der Toningenieur hatte darauf bestanden, dass die Männer besonders schnell spielten, damit das Stück auf eine Schallplattenseite passte – , und die meisten Amerikaner hatten so etwas noch nie gehört.

 


Original Dixieland Jazz Band: «Dixie Jazz Band One-Step» (1917) (YouTube).

 

Schon wenig später stand die ODJB erneut im Studio für die Einspielung weiterer Stücke: „At the Jazz Band Ball“, „Fidgety Feet“, „Sensation Rag“, „Tiger Rag“ und „Clarinet Marmalade Blues“. Dieser Jazz war „organisierte Desorganisiertheit“, wie es die Werbetexter von Victor ausdrückten: „Ob Jass, Jas oder Jazz geschrieben – eine Jassband verdirbt niemandem den Spass. Sie ist das neueste in den Varietés und trägt sehr zum Vergnügen der Zuschauer bei. Nie weiss man, was sie als nächstes tut, doch immer weiss man, was ihre Zuhörer tun werden – sie werden ‚das Tanzbein schwingen’. Die Jassband ist eine völlig neue Entwicklung in der Musik. Sie hat genügend Energie und Durchschlagskraft, um einer Mumie neues Leben einzuhauchen und wird stinknormale Tänzer dazu bewegen, bis zum Morgengrauen auf den Beinen zu bleiben.“

 

Grammophon

Die erste Platte der Original Dixieland Jazz Band erschien am 7. März 1917 und verkaufte sich bei einem Stückpreis von 75 Cent mehr als eine Million Mal – „wesentlich häufiger als jede Schallplatte von Caruso oder John Philip Sousa.“ (Ward, Jazz, 64).

 

„Das Erscheinen dieser Platten war ein wichtiges musikgeschichtliches Ereignis: erstmals erfuhr ein breites Publikum von dieser Musik und die Platten inspirierten viele junge Musiker, diese Kunst auszuforschen.“ (Taylor, in: Kirchner, 41) Mit den erstaunlichen Plattenerfolgen der Orginal Dixieland Jazz Band wurde der New-Orleans-Jazz wichtiger Bestandteil der populären amerikanischen Musik.

 

Original Dixieland Jazz Band: A Brass Band Gone Crazy

Original Dixieland Jazz Band: A Brass Band Gone Crazy!

 

„To most listeners, the ODJB had no precedent. Many ragtime records had preceded those of the ODJB (from as far back as 1897), and elements of jazz can be detected in records made between 1914 and 1916 by such African American performers as Bert Williams, James Reese Europe, and Wilbur Sweatman, as well as the white ‚Mammy Singer’ Al Jolson. But those elements – robust rhythms or embellishments beyond written ragtime – merely hint at the real thing. The ODJB was the real thing, a musical eruption genuinely new to the market.“

„So great was the band’s initial popularity that it established the word ‚jazz’ as part of international vocabulary. Within five years, dozens of bands had appropriated the word. (Originally, it was ‚jass’, but the spelling was changed after vandals repeatedly crossed out the J on the ODJB’s billboards and posters.) Hotels throughout Europe began to hire what they called jazz bands (basically any kind of dance ensembles that had drums and at least one reed instrument). The 1920s would always be remembered as the Jazz Age.“

 

Jass Band

 

„Compared with later record by King Oliver, the New Orleans Rhythm Kings, and Jelly Roll Morton, the ODJB often sounds hokey and insincere. Still, the band played a spirited, unpretentious music, and served jazz well in several ways: its tunes became Dixieland standards; its name signaled a break with a musical past called ragtime; and a visit the band made to Europe in 1919 helped make jazz international. After its European tour, however, the band lost ist verve, and finally called it quits in 1922, just in time for Morton and Oliver to redefine New Orleans jazz for all time.“ (DeVaux, Essential, 63)

 

Cover: The Original Dixieland Jazz Band: «In England 1919/20 (Number 2)» Columbia 33S 1133.

Cover: The Original Dixieland Jazz Band: «In England 1919/20 (Number 2)» Columbia 33S 1133.

 

Im amerikanischen Fernsehen („March of Time“) konnte man, 1937, die Original Dixieland Jazz Band (ODJB) in mehreren Sequenzen spielend und jazzend sehen! Die Sendung berichtete auch darüber, wie die ODJB sich in einer Reunion wieder zusammenfand in den späten 1930ern:


Original Dixieland Jazz Band: «March of Time» (1937) (YouTube, 1.36-2.40 // 4.02 – 6.51).

Und so kann der „Dixieland Jass Band One-Step“ der ODJB in einer modernen Lesart tönen, gespielt von der amerikanischen Band Dan Levinson’s Roof Garden Jazz Band, im Jahr 2010.

 


Dan Levinson’s Roof Garden Jass Band: «Dixie Jass Band One Step» (@ BixFest ~ July, 2010) (YouTube, 6:20).

 

2 Reaktionen auf den frühen Jazz: Liebeserklärungen und Hassbekundungen

Der tschechische Komponist Antonín Dvořák ist 1892 berührt von afroamerikanischer Musik: Zukunftsmusik für Amerika!

 

Antonin Dvorak (1841-1904)

Antonin Dvorak (1841-1904).

 

1892 übersiedelte Dvořák nach New York, um die Leitung des National Conservatory of Music of America zu übernehmen. Er sagte: „Ich bin nicht nach Amerika gekommen, um für das Publikum Wagner zu interpretieren, ich bin hierher gekommen, um herauszufinden, was junge Amerikaner in sich haben, und um ihnen zu helfen, dies zum Ausdruck zu bringen.“ Dvořák bewunderte indianische Gesänge und Rhythmen, am meisten berührte ihn jedoch die afro-amerikanische Musik. „Ich bin jetzt davon überzeugt, dass sich die zukünftige Musik dieses Landes auf die [Melodien der Afroamerikanerinnen und Afroamerikaner] stützen muss’, berichtete er. „In diesen [Melodien] habe ich alles gefunden, was man für eine grosse, vortreffliche Musiktradition benötigt. Sie sind gefühlvoll, sanft, leidenschaftlich, melancholisch, feierlich, religiös, kühn, heiter, fröhlich – was immer man will.“

 

Wegen seiner 9. Sinfonie „Aus der Neuen Welt“, 1893, ist Antonín Dvořák in den USA bis heute unvergessen.

Wegen seiner 9. Sinfonie „Aus der Neuen Welt“, 1893, ist Antonín Dvořák in den USA bis heute unvergessen.

 

Wie Dvořák lobt auch der Schweizer Dirigent Ernest Ansermet, ein enger Freund Strawinskys, die Jazzmusik, als er ihr um 1920 begegnet. Vor allem der Klarinettist Sidney Bechet – „dieser schwarze, dicke Junge mit den weissen Zähnen“ – begeistert ihn.

 

Ein Schweizer mischt an der Spitze der damaligen Musik mit und lobt den Jazz: Ernest Ansermet.

Ein Schweizer mischt an der Spitze der damaligen Musik mit und lobt den Jazz: Ernest Ansermet.

 

Ein Musiker der europäischen Konzertmusik, der den Jazz früh estimierte, war der Schweizer Dirigent Ernest Ansermet (1883–1969). In der „Revue Romande“ vom Oktober 1919 äusserte sich Ansermet zu einem Konzert des New York Syncopated Orchestras (später Southern Syncopated Orchestra genannt) von Will Marion Cook in England. Ansermet sah diese Musik nicht als der europäischen Klangwelt unterlegen an –  vielmehr betonte er, Jazz könne die Musik der Zukunft werden. Besonders hob er den charismatischen Sidney Bechet hervor, der im Orchestra mitspielte, und verglich diesen mit den Pionieren vorklassischer Musik, die den Weg geebnet hätten für Haydn und Mozart.

„There is in the Southern Syncopated Orchestra an extraordinary clarinet virtuoso who is, so it seems, the first of his race to have composed perfectly formed blues on the clarinet. I’ve heard two of them which he elaborated at great length. They are admirable equally for their richness of invention, their force of accent, and their daring novelty and unexpected turns. These solos already show the germ of a new style (…) I wish to set down the name of this artist of genius; as for myself, I shall never forget it – it is Sidney Bechet. When one has tried so often to find in the past one of those figures to whom we owe the creation of your art as we know it today – those men of the 17th and 18th centuries, for example, who wrote expressive works of dance airs which cleared the way for Haydn and Mozart – what a moving thing it is to meet this black, fat boy with white teeth and narrow forehead, who is very glad one likes what he does, but can say nothing of his art, except that he follows his ‚own way’ – and then one considers that perhaps his ‚own way’ is the highway along which the whole world will swing tomorrow.“ (Englische Übertragung des frz. Originaltexts zu finden in: Walser, Keeping Time, 9)

Ein vierminütiger Ausschnitt aus dem Dokumentarfilm „Treat It Gentle“ (2007) gibt Einblick ins Leben Sidney Bechets. In Erscheinung tritt auch Regisseur Woody Allen, der Bechet verehrt.

 


Sidney Bechet: «Treat it Gentle» (2007) (YouTube, 4:21).

 

In einem Radiointerview in Frankreich, Jahre später, erinnert sich Sidney Bechet an seine Zeit bei Will Marion Cook.

 


Sidney Bechet: «Interview Pt. 5» (YouTube, 1:46).

 

In einer Debatte im schweizerischen Radio Sottens, 1946, einer 40-minütigen Sendung, sprechen Ernest Ansermet, ein Psychiater namens Dr. Boven, und Konservatoriums-Professoren über das Verhältnis von Jazz und Klassik. Faktisch stellen sie eine Überlegenheit der klassischen Musik heraus. Und doch sagt Ernest Ansermet: „Le Jazz existe et aura son influence.“ Ansermet ist sich in seinem ersten Votum schon sicher, dass diese Musik überdauern wird. Man höre sich zumindest den Beginn der Sendung an!

 


Jazz contre #MusiqueClassique, débat radio 39 mn teinté de #racisme en 1946 (YouTube, 39:23).

 

Ablehnung von Jazz in den 1920ern: Moralische Verderbnis für weisse Mädchen

Für manche war Jazz gleichbedeutend mit Lärm. Thomas Edison, dessen Erfindung des Phonographen die explosionsartige Verbreitung dieser Musik überhaupt erst ermöglicht hatte, behauptete, er lasse Jazzplatten rückwärts abspielen, denn dann ‚hörten sie sich besser an.’

 

Bildlegende: Mochte den Jazz nicht – Erfinder Thomas Alva Edison (1847-1931).

Bildlegende: Mochte den Jazz nicht – Erfinder Thomas Alva Edison (1847-1931).

 

„Ausserdem unterstellte man dem Jazz und den von ihm inspirierten Tänzen eine katastrophale Wirkung auf die Moral des Landes. ‚Durch die krankhafte, nervenaufreibende und sexuell erregende Musik der Jazzorchester steuern Hunderte amerikanischer Mädchen auf die moralische Verderbnis hin.’ Allein im Chicago der vorangegangenen zwei Jahre, so berichtete der Selbstschutzausschuss von Illinois im Jahr 1923, liesse sich der Verfall von 1000 Mädchen direkt auf den verderblichen Einfluss der Jazzmusik zurückführen (…) Neben seinen als störend empfundenen Klängen, seinem flotten Tempo und seiner angeblichen Wirkung auf die Moral, wurde der Jazz auch wegen seiner Herkunft verurteilt. Viele ältere weisse Amerikaner waren entsetzt, ihre Kinder auf eine Musik tanzen zu sehen, die man den ‚[Bordellen] des Südens’ zuschrieb, wie sich der Musikkritiker der New Yorker ‚Herald Tribune’ ausdrückte. ‚Jazz wird oft in Verbindung mit schlechter Gesellschaft, schmutzigen Wörtern und unaussprechlichen Tänzen gebracht’, verkündete der Herausgeber der Zeitschrift ‚Etude’. (…) Diese Einstellung war nicht neu. 20 Jahre zuvor hatten Weisse den Ragtime oft abgelehnt, weil er auf schwarzen Songs und Tänzen gründete – genau wie später der Rock’n’Roll wegen seiner Verbindung zur afroamerikanischen Bluestradition verurteilt wurde.“ (Ward, Jazz, 79)

 

Daddy please no more

 

Frühe Ablehnung des Jazz in der Schweiz, „ernste“ Musiker dreschen auf ihn ein: Karikatur aus der „Schweizer Illustrierten“ vom 3. Januar 1934.

Frühe Ablehnung des Jazz in der Schweiz, „ernste“ Musiker dreschen auf ihn ein: Karikatur aus der „Schweizer Illustrierten“ vom 3. Januar 1934.

 

Literatur

Buchcover Robert Walser Keeping TimeBuchtipp
Robert Walser: Keeping Time – Readings in Jazz History (Oxford, 1999).
Walsers Buch versammelt Schlüsseltexte von den Anfängen des Jazz bis in die 1990er-Jahre: Von Ansermets oben zitiertem Aufsatz von 1919 bis zu Wynton Marsalis’ Artikel „What Jazz Is – and Isn’t“ in der New York Times, 31. Juli 1988. Total über sechzig Essays auf insgesamt 420 Seiten. Eine Fundgrube.

Verwendete Literatur/Filme

[1]
Elija Wald, Der Blues (2013).
[2]
James Lincoln Collier in: Barry Kernfeld, Enzyklopädie des Jazz (Bern, 1993).
[3]
Geoffrey C. Ward, Jazz (2002).
[4]
J. Taylor, The Origins of Jazz, in: Bill Kirchner, The Oxford Companion To Jazz (Oxford, 2005).
[5]
Scott DeVeaux und Gary Giddins: Essential Listening (2011).
[6]
Robert Walser: Keeping Time – Readings in Jazz History (Oxford, 1999).