Streifzug 5: Jazz als eine Lady

Die 1920er: Der weisse Jazzmusiker Paul Whiteman will aus dem Jazz eine vornehme Lady machen

Wie der Jazz nach dem Willen des berühmten Orchesterchefs Paul Whiteman allen Staub der Strasse ablegen und stattdessen mit klassischen Streichern spielen soll. Langfristig setzt sich Whitemans Sicht des Jazz allerdings nicht durch. Der Blues in seiner Rohheit bleibt weiterhin prägend für den Jazz bis hin zum Album 1989 des New Yorker Trompeters Wynton Marsalis mit dem Titel: „The Majesty of the Blues“.

Geige oder Blues? Der Jazz sagt: Im Zweifelsfall Blues!

 

Inhalt

  1. Paul Whiteman: Jazz als sinfonische Musik – und Sänger Bing Crosby
  2. Bix Beiderbecke: der erste grosse weisse Jazzmusiker

1 Paul Whiteman: Jazz als sinfonische Musik – und Sänger Bing Crosby

 

Korpulent geraten: Orchesterchef Paul Whiteman.

Korpulent geraten: Orchesterchef Paul Whiteman.

 

Paul Whiteman (1890–1967) war ein weisser und klassisch ausgebildeter Musiker mit Jazzliebe. Er war mit Abstand der populärste Bandleader der 1920er-Jahre und so bekannt wie Charlie Chaplin. „Tall and corpulent, with a round and much caricatured face, he was the first American pop-music superstar of the twentieth century, a phenomenon at home and abroad – as celebrated as Charlie Chaplin and Mickey Mouse.“

 

Bald nannte man ihn den King of Jazz. Völlig fälschlich.

Bald nannte man ihn den King of Jazz. Völlig fälschlich.

 

Was sind die historischen Verdienste von Paul Whiteman? Erstens versuchte er den Jazz zu nobilitieren und ihm ein besseres Image zu geben. Er verband ihn mit Streichern und wollte so aus Jazz, diesem Strassenmädchen, nach eigenen Worten eine „Lady“ machen.

Vielleicht entschied sich bei Whiteman, ob Jazz entwicklungsgeschichtlich zu einer ehrwürdigen, noblen, gesitteten Musik werden sollte, mit Streichern versehen und nach abendländischem Gestus mit Dirigent gespielt – oder ob Jazz dem Blues treu bleiben würde und einer rauhen Improvisationskultur!

Auch George Gerswhins „Rhapsody in Blue“ ist in diesem Zusammenhang zu sehen. Whiteman regte die Komposition bei Gerswhin an und liess sie mit ihm am Klavier 1924 uraufführen. Klassik und Jazz gehen zusammen. Symphonic Jazz in den Worten von Paul Whiteman.

Doch das alles hat sich nicht durchgesetzt in der weiteren Geschichte des Jazz. Jazz trank weiterhin aus der Quelle des Blues. Born to be wild.

„Whiteman, more than anyone else, embodied the struggle over what kind of music jazz would ultimately be. Would it be a scrappy, no-holds-barred improvisational music built on the raw emotions and techniques of the New Orleans style, or a quasi-symphonic adaptation, with only vestigial elememts to suggest the source of inspiration? Was jazz merely a resource, a primitive music from which art music could be developed, or was it an art in itself?
In 1924, Whiteman set out to prove his contention that jazz was a form of classical music with a concert – he called it ‚An Experiment in Modern Music’ – at New York’s Aeolian Hall, a crucial moment in twentieth-century musical history. He opened with a crude performance of the Original Dixieland Jazz Band’s ‚Livery Stable Blues’, played for laughs as an example of jazz in ist ‚true naked form’, and closed with a new work he had commissioned from the ingenious Broadway songwriter George Gerswhin (1898–1937), Rhapsody in Blue, performed with the composer at the piano. The response to Whiteman’s singular Americana was so fervent that he was promoted das the ‚King of Jazz’ and originator of symphonic jazz, a phrase he coined. Symphonic jazz represented a fusion of musical styles – in this instance, between [black] folk art and the high-culture paradigm of Europe.“

Wie klang Paul Whitemans sinfonischer Jazz konkret?

Hier ist es zu hören – in einem Ausschnitt aus „King of Jazz“ von 1930, jenem Film, der Whiteman glorifizierte und ihn fälschlich zu einem wichtigen Jazzmusiker stilisierte, ihn gar zum King of Jazz ernannte. Die Musik von „I Like To Do Things For You“ ist einer Sequenz mit Balletttänzerinnen unterlegt. Man hört Jazzinstrumente gemeinsam mit klassischen Instrumenten wie Violinen.

 


Paul Whiteman: «I Like To Do Things For You (Meet the Girls!)» (YouTube, 1:49) – Weisse Tänzerinnen, nackte Haut – und sinfonischer Jazz: Paul Whiteman.

 

Kommen wir nochmals zurück auf die „Rhapsody in Blue“. Rückblickend besteht die wichtigste Leistung von Whiteman darin, dass er diesem Schlüsselwerk früher eigenständiger amerikanischer Musik zur Geburt verhalf. Die Rhapsody taucht auch auf im Film „King Of Jazz“. Hier ein vierminütiger Ausschnitt: Fünf Pianisten am Riesen-Klavier. Ein Orchester im Inneren des Flügels. Frühes Hollywood. Und für die Zukunft: Eine Möglichkeit, Musik zu visualisieren.

 


George Gershwin: «Rhapsody in Blue» aus dem Film mit Paul Whiteman: «King Of Jazz» Restored Technicolor Sequence (1930) (YouTube, 3:31) – Wer wusste vor Paul Whiteman, dass in einem grünen Flügel ein ganzes Streichorchester Platz finden kann?

 


Paul Whiteman And His Orchestra: «Rhapsody In Blue» (1924) (YouTube, 9:35) – Integraler Mitschnitt des Original-Auftritts von 1924.‬‬‬ Zu hören ist auch der berühmte Anfang mit der hochglissierenden Klarinette.

 

Film

Den gesamten anderthalbstündigen Film „King of Jazz“ findet man im Folgenden. Eine Zeitreise zurück ins Jahr 1930.

 


Paul Whiteman: King of Jazz (1930) (YouTube, 1:32:02) – mit Bing Crosby, George Gershwin, John Boles

 

Sänger Bing Crosby

Neben der Diskussion der Frage, ob Jazz sinfonisch sein soll oder bluesnah, ist ein weiteres Verdienst von Paul Whiteman zu erwähnen. Whiteman führte die Institution des Band-Vokalisten in den Jazz und in die populäre Musik ein: Sein Sänger Bing Crosby (1903-1977) wurde zu einem der wichtigsten amerikanischen Vokalisten. Unglaubliche Plattenabsatzzahlen. Crosby begründete gemeinsam mit Sänger Rudy Vallee den sogenannten „Crooner“-Gesangsstil, eine sanft-romantische Art des Singens mit Mikrofon.

 

Bing Crosby sang mit hoher Stirn und mit schmeichlerischer Stimme.

Bing Crosby sang mit hoher Stirn und mit schmeichlerischer Stimme.

 

„Whiteman’s first important jazz hire came from vaudevill: singer Bing Crosby. Never before had a popular bandleader hired a fulltime singer; in the past, instrumentalists had assumed the vocal chores. During his first week with the Whiteman band, in Chicago in 1926, Crosby heard Armstrong, and was astonished by his ability to combine a powerful art with bawdy comedy, ranging form risqué jokes to parodies of a Southern preacher. Crosby became the most popular singer in the first half of the century of the twentieth century, a decisive force on records and radio and in the movies – and a major link between jazz and the mainstream. He helped to make Armstrong’s musical approach accessible to the white public by adapting rhythmic and improvisational elements of Armstrong’s singing style to his own. In turn, Crosby inspired Armstrong to add romantic ballads to his repertory – they often recorded the same songs within weeks of each other. They would work together, on and off, for the next four decades.“

 


Paul Whitemans Rhythm Boys (1929) (YouTube, 2:42) – Bing Crosby in Aktion: Ausschnitt aus „The King Of Jazz“ mit dem berühmten Trio „The Rhythm Boys“ (Bing Crosby, Al Rinker, Harry Barris).

 

Folgender Clip zeigt nochmals eindrücklich, was Crooning bei Bing Crosby meint. Orchesterboss Whiteman selber ist nicht zu sehen.

 


Bing Crosby: «Learn To Croon» (YouTube, 2:32) – Romantischer geht’s nimmer: Bing Crosby singt „sweet melodies of love“.

 

Folgender Clip zeigt den etwas älteren Bing Crosby gemeinsam mit Louis Armstrong – Jazz unter Kronleuchtern und im schwarzen Anzug.

 


Bing Crosby und Louis Armstrong: «Now you has Jazz» (YouTube, 4:16) – Jeder von ihnen ein Entertainment-König: Crosby & Armstrong.

 

2 Bix Beiderbecke: der erste grosse weisse Jazzmusiker

Paul Whiteman beschäftigte in seiner Band den wichtigsten weissen Jazzmusiker der 1920er-Jahre. Bix Beiderbecke (1903-1931).

 

Ein zu feiner, zu sensibler junger Mann fürs rauhe Jazzgeschäft? Bix Beiderbecke starb mit 28.

Ein zu feiner, zu sensibler junger Mann fürs rauhe Jazzgeschäft? Bix Beiderbecke starb mit 28.

 

Mit Bix Beiderbecke spielt erstmals ein weisser Musiker in einer Art Jazz, dass klar wird: Weisse könnens auch! „Wichtig ist, dass die afroamerikanische Musik erst in dem Moment vollkommen zur amerikanischen Musik wird, als der Weisse sie spielen lernte!“ (Leroi Jones, Blues People).

Selbst Louis Armstrong bewunderte das Spiel des jungen Beiderbecke – davon erzählt folgender sechsminütiger Ausschnitt aus dem Film „Jazz“ von Ken Burns. Zur Sprache kommt auch die Lebenstragödie Beiderbeckes, der an Alkoholismus zugrunde ging.

 


Ken Burns: «Jazz» (2001). Ausschnitt: «Wake up Bix».

 

Folgender zweiminütiger Clip zeigt neben Whiteman – kurz – auch Bix Beiderbecke. Der Mitschnitt von 1928 zeigt, wie Whiteman zu einer Aufnahmesession kommt, seinen alten Aufnahmevertrag mit Victor Records zerreisst, er wird für Columbia Records arbeiten künftig. Schön im Bild sichtbar: Klassik und Jazz treffen aufeinander. Auf der einen Seite Violinen, auf der anderen eine Rhythm Section sowie Blechbläser. Eine anderthalbminütige Trouvaille.

 


Paul Whiteman Orchestra with Bix Beiderbecke: «My Ohio Home» Unique Synchronized Version {1928) (YouTube, 1:48)

 

Bix Beiderbecke steht historisch auch dafür, dass die Jazzmusiker in den 1920ern die Bedeutung der Schallplatte als Lernmittel für die eigene Kunst, fürs eigene Spiel entdecken. Sie imitieren Soli. Und kommen so selber improvisatorisch weiter.

„Bix was fourteen when the Original Dixieland Jazz Band issued its first records, and they affected him deeply (…) He taught himself cornet by mimicking and harmonizing with recorded performances.“

„Beiderbecke belonged to the first generation of musicians who learned about jazz from recordings. This kind of introduction had an immediate threefold influence. First, young people were exposed to jazz without having to live in a particular area or sneak into off-limits places (saloons) where it was performed. Second, owning records encouraged, through repeated plays, study and memorization.“

Der Chicago Style: „Late in 1924, Beiderbecke recorded with the Sioux City Six, alongside C-melody saxophonist Frank Trumbauer. Beiderbecke and Trumbauer became the figureheads for a generation of white jazz musicians (almost all born between 1904 and 1909) often reffered to as the Austin High Gang, after those who had attended Chicago’s Austin High School: pianist Joe Sullivan, drummer Dave Tough, tenor saxofoninst Bud Freedman, cornetist Jimmy McPartland, and clarinetist Frank Teschemacher. Collectively they created the Chicago style, which began by imitating New Orleans bands and evolved into a more slapdash, aggressively rhythmic school that combined expansive solos with polyphonic theme statements.“

Zur wichtigsten Aufnahme des Gespanns Beiderbecke/Trumbauer wurde „Singin’ the Blues“, eingespielt 1927 im Chicago Style. Man beachte die wunderbare akustische Gitarre von Eddie Lang, das C-Melody Sax Trumbauers und Beiderbeckes liebliches Kornett.

 


Bix Beiderbecke: «Singin The Blues» (1927) (YouTube, 3:00).

 

„The two long solos on ‚Singin’ the Blues’ quickly entered the lexicon of jazz, and have since been incessantly studied and imitated. Fletcher Henderson recorded a version in which his reed section played Trumbauer’s solo and cornetist Rex Stewart played Bix’s improvisation, as though they were composed pieces of music … These solos are also believed to be the first to which lyrics were written (a process that came to be known as ‚vocalese’ when it blossomed in the 1950s.“

 

Bix and Tram

Bix Beiderbecke With Frankie Trumbauer’s Orchestra: Bix And Tram: A Hot Jazz Classic, Columbia C-144, 4 × Shellac, 10″ Compilation, 1947. – Cover Jim Flora

 

Frankie Trumbauer & His Orchestra With Bix And Lang: Singin' The Blues (Okeh 40772, Seite B)

Frankie Trumbauer & His Orchestra With Bix And Lang: Singin‘ The Blues (Okeh 40772, Seite B)

 

Filme

BBC drehte 1975 eine einstündige Dokumentation zu Bix Beiderbecke und Paul Whiteman in drei Teilen.

 

 

 

Bix Beiderbecke and the King of Jazz (Paul Whiteman): King of Jazz (1930) (YouTube, 3 Teile, 1:32:02) – mit Bing Crosby, George Gershwin, John Boles 

 

Hier eine weitere einstündige Dokumentation, mit Musik von Beiderbecke sowie Interviews mit Zeitgenossen, die mit Beiderbecke direkt zu tun hatten wie etwa dem Songwriter Hoagy Carmichael („Stardust“).

 


Bix Beiderbecke: «A Selection of his Recordings & Part 3 of documentary» (YouTube, 56:20).

 

Bix Beiderbecke - Schallplattencover

Bix Beiderbecke – Schallplattencover

 

Literatur

Buchcover: Peter Niklas Wilson (Hg.): Jazz-Klassiker, Bd. 1 und Bd. 2.
Buchtipp
Peter Niklas Wilson (Hg.) Jazz-Klassiker, Bd. 1 und Bd. 2 (Stuttgart, Reclam 2005).

Die ideale Nachttisch-Lektüre für Jazzinteressierte! Die beiden Bändlein von Peter Niklas Wilson enthalten höchst kompetente biografische Abrisse zu allen bedeutenden Jazzmusikerinnen und Jazzmusikern: von Armstrong bis Zawinul, von Albert Ayler bis Anthony Braxton. Jeder Beitrag knappe 10 Seiten kurz. Mit Angabe der wichtigsten Tonträger und der wichtigsten Sekundärliteratur zum jeweiligen Musiker. Hier macht man sich schlau in kürzester Zeit. Und das viel besser als bei Wikipedia.

Verwendete Literatur

[1]
Peter Niklas Wilson (Hg.): Jazz-Klassiker, Bd. 1, S. 73 f. (Stuttgart 2005).
[2]
Martin Kunzler, Jazz Lexikon, darin: Paul Whiteman S. 1475 f. (Rowohlt 2002).
[3]
Devaux/Giddings, Jazz – Essential Listening (2011).
[4]
Joshua Berrett: Louis Armstrong & Paul Whiteman, Two Kings of Jazz (Yale University, 2004).
[5]
Leroi Jones, Blues People (1963).