Country Blues oder Wie Eric Clapton auf den Geschmack kam
Herumziehende Gitarristensänger im Mississippi-Delta spielen den Country Blues ab zirka 1900. Country Blues ist die Ursuppe. Mit Country Blues beginnt alles. Der Jazz. Der Rock. Lesung aus dem Buche Genesis.
Inhalt
- Country Blues zählt
- Country Blues sprengt alle Formraster
- Mississippi-Delta als Stammland: Charlie Patton
- Erster Country-Blues-Star: Blind Lemon Jefferson
- Der Einzigartige: Robert Johnson
- „Tages-Anzeiger“-Text zu Robert Johnson
- Dokfilme zum Blues
- Appendix. Classic oder Vaudeville Blues: Kurzer Blick auf Bessie Smith und W.C. Handy
- Vereinfachende Übersicht: Bluesformen chronologisch bis zum Rhythm & Blues
1 Country Blues zählt

Überall, an ansehnlichen und an unansehnlichen Orten im Mississippi-Delta, liessen sich die Country Blueser nieder, um zu musizieren: Mit der Gitarre. Mit der Bluesharp. Mit der eigenen Stimme.
Der Country Blues (ländlicher Blues) wird erst über Umwege von einem breiteren Publikum entdeckt, im Gefolge der Blues Queens der 1920er mit ihrem Vaudeville-Blues. „Wenn auch die Musik der früheren Vertreter des Country Blues erst später auf Platten gepresst wurde als die viel kommerzieller ausgerichtete Musik von Stars des Blues-Genres wie Handy und Rainey, glauben viele Musikwissenschaftler, dass letztere in ersterer wurzelt.“
Die Interpreten von Country Blues haben bei den modernen Hörern wesentlich mehr Anklang gefunden als die Blues Queens – zu einem beträchtlichen Teil deswegen, weil man heute in ihnen Vorläufer des Rock’n’ Roll sieht, weil die späteren weissen Rockstars wie Eric Clapton oder Keith Richards sich auf ihn bezogen. Country Blues wird erst ab 1926 entdeckt, als er schon lange existierte. Vor allem der blinde Strassenmusiker aus Texas, Blind Lemon Jefferson, führt die spezifisch ländliche Blues-Weise mit seinen ersten Schallplatten ein.
2 Country Blues sprengt alle Formraster
Der urtümliche Country Blues existierte in einer Vielzahl von freien Formen, kannte regionale Unterschiede und war viel weniger standardisiert als der spätere Classic oder Vaudeville Blues.
„Wenn die [späteren] grossen Blues Queens [der 1920er] auch alle über eigentümliche, spezifische Talente verfügten, war ihnen doch ein grundlegender musikalischer Ansatz gemein. Überdies ähnelte sich die Instrumentalbegleitung zu ihrem Gesang (oft waren dieselben Musiker dafür verantwortlich) und ihr Repertoire überschnitt sich partiell. Im Unterschied dazu hatten die Künstler von ‚down home’ [also die Country Blueser], die im Gefolge von Blind Lemon Jefferson Aufnahmen machten, in musikalischer Hinsicht kaum etwas miteinander gemein – ausser dass keiner von ihnen wie jemand klang, die im Mainstream-Showbusiness tätig war.“
„Ihre Do-it-yourself-Begleitung und ihre eindeutig mit einer bestimmten ländlichen Region in Zusammenhang zu bringende Spielweise unterschied alle diese Künstler von den Vaudeville-Diven und den Tanzorchestern.“
3 Mississippi-Delta als Stammland: Charlie Patton
„Viele Vertreter des Country Blues entwickelten ihre Fähigkeiten innerhalb relativ kleiner Gemeinschaften, die ganz eigene Weisen zu musizieren und zu singen ausgebildet hatten. In den 1920er und 1930er Jahren scheinen weder Musikwissenschaftler noch Fans sonderlich auf regionale Eigentümlichkeiten geachtet zu haben – vor allem Blind Lemon Jeffersons Aufnahmen wurden im gesamten Süden gekauft und nachgeahmt –, doch in späterer Zeit haben Musikhistoriker in erster Linie drei Gebiete mit einem signifikanten eigenen Stil ausgemacht: Texas, das Piedmont und das Mississippi-Delta.“
Es ist aber der Bundesstaat Mississippi mit seinen Blues-Stilen, der vielen als das eigentliche Mutterland dieser Musik gilt: „Ein ausschlaggebender Faktor war, dass er so dicht von Schwarzen besiedelt war: In einigen Delta-Distrikten betrug der Anteil der Afroamerikaner an der Bevölkerung mehr als neunzig Prozent.“

Charley Patton (1881-1934), der Urvater des Country Blues im Mississippi Delta: Schroffe Stimme, sicheres Rhythmusgefühl.
Im Delta ist zuerst vor allem ein Musiker wichtig: Charlie Patton [auch Charley Patton geschrieben], er zeigt uns, dass es sehr früh und noch auch vor den erfolgreichen Aufnahmen von Blind Lemon Jefferson (dazu gleich später) bereits Country Blues gab. „Charley Patton’s recordings are the best evidence we have of a first-generation bluesman apart from the Texan Blind Lemon Jefferson.“
„Beim Anhören seiner Aufnahmen fallen vor allem seine schroffe Stimme, seine schreiende Art zu singen und sein erstaunlich sicheres Rhythmusgefühl auf. Auf ‚Down the Dirt Road Blues’ von 1929 trommelt er auf den gedämpften Saiten seines Instruments, fügt Bassakzente und abfallende melodische Läufe auf den hohen Saiten hinzu, um Gegenrhythmen zu erzeugen, während er noch einen anderen Rhythmus singt. Diese polyrhythmische Virtuosität hat ganz eindeutig Ursprünge in der afrikanischen Trommelmusik.“
Charley Patton: «Down The Dirt Road Blues» (1929) (YouTube, 2:55).

Paramount bewirbt «Down The Dirt Road Blues» von Charley Patton.
„Pattons Aufnahmen erschienen, als die hohe Zeit des Country Blues sich schon wieder ihrem Ende zuneigte, und erregten ausserhalb des Deltas nur relativ wenig Aufmerksamkeit: auf heimischem Boden inspirierte Patton aber eine Reihe anderer Musiker zu einer ähnlichen Spielweise.“

Heute malen Bluesfans ihn als Graffitti auf Hausmauern: Charlie Patton, ganz entspannt.
Gitarrenlektion! Der US-amerikanische Gitarrist Paul Rishell (geboren 1950) erklärt im Folgenden in zwei je vierminütigen Videos Pattons „Dirt Road Blues“ und die in ihm spielenden Gitarrentechniken.
Paul Rishell: Country Blues Guitarren-Lektion: Dirt Road Blues (YouTube, 2 Teile).
Erster Country-Blues-Star: Blind Lemon Jefferson

Blind Lemon Jefferson: Trotz Brille kein Augenlicht – dafür musikalisch sehend.
„Although the genre appears to have originated in the Mississippi Delta, the first recording star of the country blues was the Texan Blind Lemon Jefferson (1897-1927). Born blind, Jefferson was living the typical life of a traveling street musician by the age of fourteen: wandering from place to place, performing for whoever would listen, living on handouts and the hospitality of friends. His first records were released in 1926.“
„Jelly Roll Morton hatte als ganz junger Mann Houston in Texas besucht. Später erinnerte er sich: ‚Man bekam dort keine gescheite Musik zu hören. Nur Maultrommeln, Mundharmonikas, Mandolinen und Gitarren – und Burschen, die spasmodischen Blues sangen, das heisst, ein bisschen Text sangen, dann eine Weile nur die Saiten zupften, bis ihnen das nächste Wort einfiel.’“ Das war eine scharfe Kritik des gut ausgebildeten und geschulten Pianisten und Komponisten Morton, und die meisten Theatermanager und Plattenproduzenten teilten seinen Geschmack. Doch Mitte der zwanziger Jahre ging ihnen auf, dass die Hörer andere Kriterien anlegten.
Blind Lemon Jefferson war genau einer von den Musikern, die Morton geringschätzte, doch auf den Strassen in den schwarzen Wohnvierteln von Dallas zog er mit seinem Gitarrenspiel und seinem Gesang grosse Menschenmengen an, und ein ortsansässiger Ladenbesitzer schrieb an Paramount Records, dass viele Kunden begeistert sein würden, ihn auch auf Schallplatten zu hören. Tatsächlich fanden seine Platten reissenden Absatz, nicht nur überall im Süden, sondern auch im schon stark industrialisierten Mittleren Westen, und sie leiteten eine Goldene Zeit von Country-Blues-Aufnahmen ein, die aber von relativ kurzer Dauer war.“

Blaues Gemälde für die wunderbaren „blauen“ Töne eines Bluesmusikers.

LP Cover: Blind Lemon Jefferson: «Master Of The Blues, Vol 2». Biograph Records BLP 12015 „Master of the Blues“: Heisst auch – Jefferson spielte kleine Blues-Meisterwerke ein.
„Jeffersons Erfolg war ein Anreiz für die Plattenfirmen, anderen Strassenmusikern und Entertainern aus ‚medicine shows’ und ‚juke joints’, wie die einfachen Kneipen der Schwarzen hiessen, eine Chance zu geben, und viele Musikhistoriker halten die Jahre von 1926 bis zum Beginn der grossen Wirtschaftskrise im Herbst 1929 für die fruchtbarste Periode, was Schallplattenaufnahmen des Blues betrifft.“ Jefferson wurde von der weissen Musikindustrie gnadenlos ausgenommen: „Blind Lemon Jefferson, like many other race record artists, was denied any share of the profits generated by his hit records, and in the end he died destitute.“
Wie Blind Lemon Jefferson klang: „Matchbox Blues“ (1927) und „That Black Snake Moan“ (1926)
„Jefferson war ungefähr im gleichen Alter wie Bessie Smith, und damit ungefähr zehn Jahre jünger als Ma Rainey, doch er hörte sich an wie ihrer beider vom Land stammender Grossvater. Seine Vocals besassen den schwebenden, klagenden Klang der ‚Field Hollers’ und sein Gitarrenspiel hatte etwas Ruckartiges, Abruptes an sich, es war von eher ungezügelter Virtuosität. Die meisten seiner Blues-Songs basierten auf der zwölftaktigen Standardstruktur, er trug sie aber in der freien ‚spasmodischen’ Art vor, die Morton so missfallen hatte. Er konnte einen Takt in die Länge ziehen, um ihm noch mehr Gefühl abzuringen, oder ihn verkürzen, um ihn aufregender klingen zu lassen.“
„Mit seinem bekanntesten Song, ‚Matchbox Blues’, machte er ein Bild populär, das einem zuvor schon im Text einer der Aufnahmen Ma Raineys begegnet war und später von allen möglichen Sängern und Sängerinnen von Billie Holiday über Sam Cooke und Carl Perkins bis hin zu den Beatles wiederverwendet wurde: ‚I’m sitting here wondering, will a matchbox hold my clothes / I ain’t got so many matches, but I’ve got so far to go.’ (‚Ich sitze hier und frage mich, ob eine Streichholzschachtel meine Kleidung aufnehmen wird / Ich habe nicht sehr viele Streichhölzer /Ersatzkleidungsstücke, dabei muss ich einen sehr langen Weg zurücklegen.’)
Blind Lemon Jefferson: «Match Box Blues» (1927) (YouTube, 3:06) – ein Rock ’n‘ Roll Song und klassischer Texas Blues.

LP Cover: Blind Lemon Jefferson: «Complete Recorded Works In Chronological Order: Volume 2» (1927), Document Records DOCD-5018.
„That Black Snake Moan“ (1926), ein weiterer sehr bekannter Blues von Jefferson: Hier bündelt sich vieles, was Country Blues ausmacht. Im Folgenden einige ausgewählte sprechende Charakterisierungen dieses starken Blues von Larry Starr und Christopher Waterman:
- Freie Stimmführung. –„Listening to Jefferson’s version of ‚That Black Snake Moan’, recorded by Paramount Records, it is easy to grasp why music like this would have struck a middle-class black musician like W. C. Handy – not to mention the white advertising copywriter for Paramount Records! – as ‚weird’. Jefferson’s voice has a moaning quality, sliding among pitches and sometimes sounding closer to speaking than singing. The moaning quality is accentuated by the textless vocalizations, such als ‚aay’, or ‚mmm’ with which Jefferson punctuates the beginnings of many phrases in the song.“
- Mehr Single-Note-Begleitungen auf der Gitarre als Akkorde. –„There is little feeling of chord progression in ‚The Black Snake Moan’, as the guitar part is characterized more by single-note playing than by the strumming of chords.“
- Kein „steady beat“. – „Indeed, as Jefferson is the only performer here, he is not even obligated to keep a steady beat going, since he does not have to keep time with anybody else.“Freie Stimmführung.
- Unverblümt sexuelle, anstössige Lyrics im Gegensatz zur Tin Pan Alley. – „Of course, lyrics like these demand a completely different approach from those of Tin Pan Alley song. It is instructive to compare the lovers’ relationship in ‚That Black Snake Moan’ to the idealized middle-class one articulated in the lyrics to ‚My Blue Heaven’, recorded in New York City the next year. There is a blunt realism in Jefferson’s words, with their description of poverty and erotic desire. The sexual image arount which the song is organized – the snake as phallic symbol – is typical for blues lyrics. Sexual puns and the theme of erotic love were an important part of the appeal of blues and other race records. The sexual content of blues songs was, of course, also a source of middle-class outrage [Empörung]. The frankness of sexual discourse in rural African American culture, not atypical of farming communities where the facts of life are observed daily, ran counter tot he socal mores of ‚respectable’ society and of the religious establishment, white and black.“
Blind Lemon Jefferson: That Black Snake Moan (1927) (YouTube, 2:57).
Die ersten beiden Strophen von „That Black Snake Moan“:
Aay, ain’t got no mama now. Aay, ain’t got no mama now. She told me late last night, ‚You don’t Need no mama no how. Mmm, black snake crawlin’ in my room. Mmm, black snake crawlin’ in my room. And some pretty mama had better come An’ get this black snake soon.
Was für ein Gegensatz zur Tin Pan Alley!
Man höre „My Blue Heaven“ (1927) von Gene Austin, ein typischer Song der Tin Pan Alley, der meistverkaufte Song seiner Zeit!
Gene Austin: My Blue Heaven (1927) (YouTube, 3:33) – der Song wurde komponiert von Alter Donaldson (Musik) und George Whiting (Lyrics) und wurde 1924 publiziert.
Für den Gesang von Gene Austin ist das „Crooning“ typisch: die Intimität einer durch Mikrofon in ihren Details verstärkten Stimme.
Day is ending … Night shades falling … When whippoorwill calls … I turn to the right … A smiling face … Just Molly and me …
4 Der Einzigartige: Robert Johnson

Eric Clapton verehrte ihn abgöttisch: Robert Johnson.

Robert Johnson gehört zum amerikanischen Kulturerbe, die Briefmarke spricht davon.
Der grösste, einflussreichste Country-Blues-Musiker war Robert Johnson (1911–38): „Indeed, no country blues artist had a greater influence on later generations of blues and rock musicians than Robert Johnson. His work was especially revered by the British guitarist Keith Richards of the Rolling Stones, and by Eric Clapton, whose band Cream released a celebrated cover of Johnson’s ‚Crossroad Blues’ in 1968. Eventually, Johnson’s posthumous reputation was such that when his complete output was reissued on compact discs in 1990, the set quickly became a surprise million-seller.“

Robert Johnson: «King Of The Delta Blues Singers». Columbia/Legacy CL 1654, 1961.
„His guitar playing was so remarkable and idiosyncratic that stories circulated claiming Johnson had sold his soul to the devil in ordert o play that way; when performing for an audience, he apparently turned in such a position as to conceal his hands so that nobody could see what he was doing to produce his sounds.“

Robert Johnson lebte ungesund und wurde nur 27-jährig. Wie auch Janis Joplin oder Amy Winehouse. Für Rockmusiker ist 27 ein gefährliches Alter. Seht euch vor! (Bild: R. Crumb).
Der „Crossroad Blues“ ist eines der bekanntesten Bluesstücke von Robert Johnson. Er erzählt davon, dass Robert Johnson in faustischem Pakt dem Teufel an einer Weggabelung seine Seele verkauft. Was ihm der Teufel dafür schenkt? Die Gabe des vollendeten Gitarren-Bluesspiels!

An nächtlichen Kreuzungen bei Vollmond erscheint manchmal der Teufel. Er sucht sich vor allem Gitarristen heim.

Robert Johnson: «Cross Road Blues». 10“ Schellack Single. Vocalion 03519, 1937.
Robert Johnson: «Cross Road Blues» (1936) (YouTube, 2:38).
Was ist charakteristisch am „Cross Road Blues“?
- Feeling eines regulären Pulses. – „’Cross Road Blues’ serves as a fine example of Johnson’s artistry. Johnson’s guitar here is forcefully rhythmic, and while the song as a whole exhibits the freedom of phrasing also seen in ‚That Black Snake Moan’, there is a much stronger feeling of regular pulse throughout ‚Cross Road Blues’.“
- Vorwegnahme einer Rockgitarren-Stilistik. – „Unlike Jefferson, Johnson uses the guitar principally as a chordal instrument, and his aggressive, rapid strumming of chords gives his work a flavor that anticipates the electric guitar styles of rock music. This modern feeling is abetted by the wide range of timbres Johnson obtains from his acoustic guitar. He also makes use of the bottleneck technique, common among Mississippi Delta blues guitarist.“
- Robert Johnson war gesanglich unheimlich breit und reichhaltig im Repertoire. – „Johnson’s creative us of guitar timbres is mirrored in his singing, which also veers eerily from high to low, from strained to gruff colors, as if depicting through sound itself the desperation expressed in the words oft he song.“
- Die verzweifelten Lyrics des „Cross Road Blues“. – „In terms of narrative technique, ‚Cross Road Blues’ hardly tells a story at all. Like some of the greatest lyric poetry, it uses words to evoke an emotional and spiritual condition, in this instance a condition of harrowing darkness and despair.“
Einige dieser verzweifelten Zeilen aus dem „Cross Road Blues“:
„I went to the crossroad, fell down on my knees … Asked the Lord above, ‚Have mercy, save poor Bob, if you please’ … Mmm, the sun goin’ down, boy, dark gon’ catch me here … I haven’t got no lovin’ sweet woman that love and feel my care. … Lord, that I’m standin’ at the crossroad, babe, I believe I’m sinkin’ down.“
5 „Tages-Anzeiger“-Text zu Robert Johnson
Aus Anlass des 100.Geburtstags von Robert Johnson im Folgenden eine Würdigung des Gitarrensängers durch „Tages-Anzeiger“-Popkritiker Christoph Fellmann – mit Blick auf Johnsons immense Wirkung auf den späteren Rock, mit Blick auch darauf, dass Johnson nicht Partyblues spielte, sondern einen Blues, der von Einsamkeit berichtete. Von einem Leben ohne Heimat und Ziel.
Artikel: Robert Johnson und die Erfindung von Rock’n’Roll als Lebensstil oder Das Phantom der Landstrasse
Robert Johnson kannte das Leben auf der Strasse. Die weissen Rockmusiker, die es nicht kannten, begeisterten sich lange nach seinem Tod umso mehr dafür – von Christoph Fellmann.
Vor dem schäbigen Bluesclub, den Bobby Rush und seine Band gleich betreten werden, sitzt im Gras ein dürrer, weisser Mann und schabt auf seiner akustischen Gitarre einen langsamen Blues. Ein armer Mensch, denkt vermutlich Rush, ein populärer Unterhalter in den Musikkneipen im Süden der USA. Er hält ihm eine Fünfdollarnote hin, nimmt die Gitarre und spielt eine scharfe, schnelle Bluesmelodie. «That’s the blues», sagt er, gibt das Instrument zurück und geht in den Club, um sich aufs Konzert vorzubereiten, in dem seine Band das Publikum auch an diesem Abend mit dem drallen Hintern seiner Backgroundsängerin begeistern wird, «dem beweglichsten in ganz Amerika».
Robert Johnson hätte diesen Hintern ebenso gemocht wie die Bluesparty von Bobby Rush, die Richard Pearce für seine Dokumentation «The Road to Memphis» (2003) filmte. Man kann sich ihn jedenfalls gut vor einem ähnlichen Publikum vorstellen; wie er es mit den eigenen Songs und den Hits des Tages unterhielt, voll vom beliebten Bluesmannsgarn aus sexuellen Angebereien und Teufelsgeschichten.
Und doch gilt Robert Johnson heute kaum als Vorläufer von Musikern wie Bobby Rush. Dafür klingen die Songs, die er hinterlassen hat, viel zu selten nach Partyblues. Eher dürfte sich der weisse Freak mit der Wandergitarre dem Geist von Johnson nahe fühlen – ein Streuner durch das Land und durch die verheerende Einsamkeit des Blues. Johnson hat dieses Nomadenleben nicht nur selber gewählt und geführt, sondern auch besungen. In «Ramblin’ on My Mind» mit seinem schlurfenden Basslauf oder im «Walking Blues», in dem er aufwacht, um sich herum das Nichts.
Das grossartigste Mannsbild
Das war ein Leben, das die schwarzen Musiker zu gut kannten, um es zu romantisieren. Muddy Waters, ein Nachfolger von Robert Johnson nahm 1950 noch «Rollin’ Stone» auf, in dem er zur schleifenden Gitarre beschrieb, wie es ist, ohne Heimat und ohne Ziel, als «rollender Stein» über die Landstrassen zu gehen. Aber da lebte er schon in Chicago, und als er mit Willie Dixon den Song zu «Hoochie Coochie Man» (1954) und zu «Mannish Boy» (1955) umarbeitete, wurden daraus krachend elektrische Bluesnummern. Und mit diesen Stromstössen wurden in diesen Songs auch die Prognosen der Zigeunerin immer verlockender: Nicht mehr als «Rollin’ Stone» wurde der Sänger seiner mit ihm schwangeren Mutter angekündigt, sondern als «Son of a gun» und schliesslich als «Greatest man alive» – in drei Songs vom Treibgut zum geilen Siech und grossartigsten Mannsbild überhaupt. Dazu passend verdiente Muddy Waters viel Geld, kaufte viele Cadillacs und zeugte noch mehr Kinder.
Seine Platten wurden auch in England gehört, wo sich junge Männer aus der Mittelklasse nicht nur für den Sound von Muddy Waters begeisterten, sondern durchaus auch für seinen Satisfaktionshunger. Aber sie nannten sich nicht The Sons of a Gun oder The Mannish Boys. Sie hiessen The Rolling Stones.
Der Blues der Engländer
Das war kein Fehler und schon gar keine Bescheidenheit. Steht dieser Name doch für einen Lebensstil, der alles hinter sich lässt, was eine bürgerliche Existenz im England der frühen 60er-Jahre vorsah. «Lord, I feel like blowin’ my old lonesome home», hatte Robert Johnson gesungen. In seiner Welt war er ein erfolgloser Aussenseiter gewesen, «nahe nur seiner Gitarre», wie der Bluessänger Johnny Shines ihn beschrieben hatte. Aber gerade das, und nicht nur sein Nachlass, machte ihn jetzt zu dem Bluesmusiker, der am vehementesten verehrt wurde. Zwanzig Jahre nach seinem Tod, auf der anderen Seite des Atlantiks.
Tatsächlich fand Robert Johnson sein Publikum erst jetzt – unter den weissen Kindern des Wirtschaftswunders, die ihre Existenzangst aus Büchern und Schallplatten beziehen mussten. Muddy Waters hatte erzählt, wie er Johnson an einer Strassenecke spielen sah und sich davonschlich, weil er ihm «zu heavy» war. Genau das gefiel den Nachgeborenen: wie dieser Sänger, ganz auf sich geworfen, sein nacktes Leben in vibrierender Angstlust über die Strasse trieb. Über diese Dinge hatten die Rockmusiker schon bei Jack Kerouac und den anderen Beatniks gelesen. Jetzt schrieben sie die Bluesgeschichte neu: «Die Helden wurden ausgewechselt», schreibt Elijah Wald in «Escaping the Delta», seinem Buch über Robert Johnson «Die Leute, welche die Stars gewesen waren, waren nun zu raffiniert, um echt zu sein.»
Unter den «echten» Stimmen von der Strasse bot Johnson den erschütterndsten Thrill, und der wurde nun zum Mass der Dinge für die jungen Blues- und Rockmusiker. Die Beatniks hatten gezeigt, wie man auf der Strasse zu seiner Stimme finden konnte, liess man den Zivilisationsmüll hinter sich. Wer auf «eine gewisse Nacktheit» zurückgeworfen sei, so Allen Ginsberg, sehe die Welt erst auf visionäre Weise. Eine, die diese Methode anwandte, war Janis Joplin. Weggefährten haben erzählt, wie sie sich mit Alkohol, Drogen und lieblosem Sex bewusst zugrunde richtete. Sie wollte das Elend spüren, das sie für notwendig hielt, um als Bluessängerin, zumal als weisse, glaubwürdig zu sein.
Wie der Musikkritiker Greil Marcus aber richtig bemerkte, kann die Soziologie zwar den Blues erklären, aber nicht die unerhörten Songs von Robert Johnson Das Elend erzeugt keine Kunst, und schon gar keine Freiheit. Janis Joplin aber glaubte an die berühmte Zeile, die sie in «Me and Bobby McGee» sang: «Freedom’s just another word for nothing left to lose.» Sie war 27 Jahre alt, als sie doch noch etwas fand, das sie verlieren konnte, nämlich ihr Leben.
Die Prinzessin der Strasse
Nach aussen hatte ihre Bohemia genauso fasziniert wie bei Brian Jones, Jimi Hendrix und Jim Morrison, die auch mit 27 starben. Das lag daran, dass der Flirt mit dem Tod nun zwar zum Repertoire gehörte, aber seine Folgen nur als Teil der Show zu sehen waren – in der Person fahler, verwegener Gestalten auf der Bühne. Auch der Mythos von Robert Johnson basiert auf Unsichtbarkeit; darauf, dass wir seine Getriebenheit nur aus seiner Kunst kennen.
Wie schäbig so ein Vagantenleben ist, erfahren wir erst in neuerer Zeit. Handybilder übermitteln in Echtzeit die Abenteuer von Amy Winehouse oder Peter Doherty. Und jetzt, da wir sie zu sehen bekommen, wenden wir uns peinlich berührt ab, so wie Bobby Rush von dem armen Mann vor dem Bluesclub. Dabei hätten wir es wissen können. Von Muddy Waters, der nicht mehr nach Mississippi zurückkehrte. Oder von Bob Dylan, der 1965 in «Like a Rolling Stone» eine Hipster-Prinzessin fragte, wie sich das Leben als rollender Stein denn nun anfühle. Als «Unsichtbare».
Dylan spielte auf Ralph Ellison an, der in seinem Roman «The Invisible Man» (1952) die afroamerikanische Existenz als «unsichtbar» beschrieben hatte. Wie es sich für ein Phantom gehört, blieb das Mädchen im Song ohne Stimme und ohne Antwort. Dylan wusste, dass man sie bei Robert Johnson nachhören konnte; bei einem, der tatsächlich unsichtbar war und nur durch glückliche Umstände ein paar Songs hinterlassen hatte. Bei einem, der alles dafür gegeben hätte, sichtbar zu sein. Der aber nichts hatte als sein Leben und seinen Anzug, den er immer schön sauber hielt.
(Tages-Anzeiger, 7. Mai 2011)
6 Dokfilme zum Blues
Medien
Erstens: Amerikanische Dok-Filmer von Devilbluefilms machten sich an der Jahrtausendwende auf in die Südstatten, um dem Mythos von Robert Johnson nachzuspüren. Ihr 25-minütiger Film, veröffentlicht 2014, führt uns zu Voodoo-Priesterinnen und zu Robert Johnson.
Aidan Prewett: «Me and the Devil Blues» (YouTube, 24:06).
Zweitens: Eine fabelhafte Dokumentation bietet „Blues America“ (BBC 2013). Hier ist sie in zwei Tranchen, jede eine Stunde dauernd. Sie gibt einen Überblick über die gesamte Bluesgeschichte von Muddy Waters bis zu Rolling Stone Keith Richards.
Mick Gold: «Blues America» (YouTube, Teil 1: Woke Up This Morning, , 59:02, Teil 2: Bright Lights, Big City, 58:54).
Appendix: Classic oder Vaudeville Blues:
Kurzer Blick auf Bessie Smith und W.C. Handy
Ein Blick noch auf die neben Mamie Smith („Crazy Blues“) wichtigsten frühen Popularisatoren der Bluesmusik: Bessie Smith, die Königin des Blues in den 1920ern – und W.C. Handy, der den ersten Blues 1912 aufschrieb, den „Memphis Blues“.
Zwei kurze Dokumentationen über die Blues-Queen Bessie Smith finden sich hier: Die einzigen Bilder eines Filmmitschnitts mit Bessie Smith überhaupt sind hier enthalten – einmal fünf Minuten, einmal drei Minuten dauernd.
Tom Jenz: «The Ladies Sing the Blues». Ausschnitt aus dem Dokumentarfilm, 1989 (YouTube, 5.04).
Bessie Smith Kurzbiographie (YouTube, 3:20).
Eine kurze Dokumentation über W. C. Handy – in sechs Minuten wird das Wichtigste erzählt. Handy gilt als „Vater des Blues“, weil er mit dem „Memphis Blues“ im Jahr 1912 den ersten aufgeschrieben Blues mit der 12-Takte-Standard-Form auf den Markt brachte. Der Begriff „Vater des Blues“ trifft die Sache aber nicht, da Handy nur ein Popularisator des Blues war. Entwickelt hatten den Blues andere. Handy erzählte selber davon, wie er erstmals um 1902 auf einem Bahnhof einen Bluessänger gehört hatte.
FishNet Films: «Mr. Handys Blues. A Musical Documentary» (YouTube, 6:07).
8 Vereinfachende Übersicht:
Bluesformen chronologisch bis zum Rhythm & Blues
Country Blues oder ländlicher Blues
Kristallisierte sich um 1900 heraus.
Gesang und Gitarre (allenfalls noch Mundharmonika).
Musik vagabundierender Einzelgänger. Selbstausdruck, Intimität.
Kein standardisiertes Formmodell, freier Gefühlsausdruck. Songs weisen oft keine klare Strophengliederung auf und werden nicht selten im Sprechgesang und nur über einen einzigen Akkord vorgetragen.
Entdeckt erst in den 1920ern. Damals holt die Schallplattenindustrie, angeregt vom Erfolg des klassischen Blues, auch Volksmusiker ins Studio.
Interpreten sind Charlie Patton, Blind Lemon Jefferson, Leadbelly, Robert Johnson.
Vaudeville- oder klassischer Blues
Die volksmusikalische Tradition des Country Blues wird mit dem Vuadeville-Blues in den 1920er-Jahren zur komponierten Form der Bühnenunterhaltung. Die kommerzielle Verwertung des Blues (Race Records) beginnt.
An Auftrittsbedingungen in Clubs angepasst. Lauter und mit Band.
Besetzung in der Regel: Sänger, Gitarre, Klavier, Bass, Schlagzeug (auch Bläser).
Seit etwa 1910: Festlegung aus Dutzenden von freien Bluesformen auf das standardisierte 12-taktige Modell. Erster gedruckter Blues ist der „Memphis Blues“ (1912) von W.C. Handy.
Erste Blues-Schallplattenaufnahme: „Crazy Blues“ von Mamie Smith (1920).
Herausragende Interpretinnen dieses Bluestyps sind Mamie Smith, Ma Rainey und vor allem Bessie Smith.
City oder Urban Blues
Ab den mittleren 1930er-Jahren.
Blues im Übergang zur Professionalität in den städtischen Zentren und auch in Texas. Ab 1940 Chicago: Einsatz elektrischer Bluesgitarren durch Muddy Waters und Howlin’ Wolf, die beiden Hauptvertreter des sogenannten Chicago Blues.
Kompakter Bandsound und lautstarker Gesang.
City Blues in Chicago wird Grundlage des Rhythm & Blues.
Spätere Vertreter nach Muddy Waters und Howlin’ Wolf: Buddy Guy und Otis Rush.
Rhythm & Blues oder «Jump Blues»
Begriff 1949 vom Billboard Magazin eingeführt als Nachfolgebegriff für Race Records.
Verschmelzung städtischer Bluesformen (City Blues) mit Tanzmusik (Swing) sowie Boogie Woogie und Gospel.
Gutgelaunte Tanzmusik. Gruppenmusik. Häufig ekstatisch (vor allem die Sänger sind es).
Typisch sind zwei Instrumente: die elektrische Gitarre und das „schreiende“ Tenorsaxofon (Swingeinfluss: Riff).
Musik des schwarzen Gettos. Zentrum des Rhythm & Blues: Los Angeles.
Vertreter sind Louis Jordan oder Illionis Jacquet.
Literatur
Buchtipps
Elijah Wald: Escaping the Delta. Robert Johnson and the Invention of the Blues (Amistad, 2004).
Das Buch des besten heutigen Blueskenners führt umfassend ein in die Vita des legendären Country-Bluesers Robert Johnson.
Sophie Bade (Hg.): Black America – Zur Geschichte der Afro-Amerikaner (dtv, 2003).
Das kurze Bändlein mit ingesamt neun Texten unterschiedlicher Experten – sowohl in Englisch wie in Deutsch – lässt einen ein Sensiorum entwickeln für Grundfragen afroamerikanischer Existenz bis in unsere Tage hinein. Black Power im Sport wird genauso verhandelt wie das Leben der schwarzen Kirchen. Die bekannte amerikanische Frauenrechtlerin Angela Y. Davis interpretiert den Blues der 1920er-Jahre als Feld für die Emanzipation schwarzer Frauen. Eine Blues-Queen wie Bessie Smith liess sich nichts sagen!
Verwendete Literatur
- [1]
- Carl-Ludwig Reichert: Blues – Geschichte und Geschichten (dtv, 2001).
- [2]
- Elijah Wald, Der Blues (Reclam, 2013).
- [3]
- Larry Starr/Christopher Waterman: American Popular Music, From Minstrelsy to MP3 (New York, 2007).
- [4]
- Christoph Fellmann: Robert Johnson und die Erfindung von Rock’n’Roll als Lebensstil oder Das Phantom der Landstrasse (Tages-Anzeiger, 7. Mai 2011).