Streifzug 8: Im Auge des Taifuns

Duke Ellington, Teil 1: Jazz, nah am Zeitpuls

Es brodelte in den 1920ern, es waren hitzige Tage: die Roaring Twenties!  Mit am Heizkessel – und vor allem auch am Klavier: Duke Ellington.

 

Inhalt

  1. Ellington im Auge des Taifuns: Harlem Renaissance, Prohibition
  2. Übergrösse Ellington besucht die Schweiz
  3. Filmdokus zur Ellington-Saga

1 Ellington im Auge des Taifuns: Harlem Renaissance, Prohibition

Duke Ellington (1899-1974) war als etwas mehr als 20-Jähriger zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort. Es waren die 1920er Jahre in Harlem, New York. Das Leben pulsierte. Ein afroamerikanischer Aufbruch auf breiter Front war im Gange – auch in der Musik, etwa im berühmten Cotton Club.

 

Duke Ellington, am Klavier sitzend, war ein glänzender Unterhalter.

Duke Ellington, am Klavier sitzend, war ein glänzender Unterhalter.

 

Die Harlem Renaissance! Hier konnte Duke Ellington zur Legende werden. In den 1920ern wurde der junge Orchesterchef und Pianist im Cotton Club im blühenden New Yorker Stadtteil Harlem als „Greatest Living Master of Jungle Music“ angesagt. Siehe im folgenden 2-minütigen Filmmitschnitt:

 


Duke Ellington: The history of the COTTON CLUB in Harlem (part 2 of 2) (YouTube, 1:55).

 

Was war so speziell im Harlem der 1920er-Jahre?

Harlem war in den 1920ern ein schwarzes Mekka. Der New Yorker Stadtteil zog die Afroamerikaner an wie ein Magnet. Hier wirkten zahllose schwarze Musiker, Schriftsteller und bildende Künstler, die den Afroamerikanern das Gefühl gaben, etwas Eigenes zu sagen zu haben. Und man vergnügte sich dabei auch! Kultur und Entertainment gingen zusammen.

 

Zeitgenössischer Führer von 1932 zum Nachtleben in Harlem – obwohl die Harlem Renaissance damals im eigentlichen Sinne bereits Vergangenheit war: Immer noch brodelte es – wenn auch teils erst spät nachts. „Nothing happens before 2 am, ask for Clarence“, heisst es beim Eintrag des Clubs Hot-Cha.

Zeitgenössischer Führer von 1932 zum Nachtleben in Harlem – obwohl die Harlem Renaissance damals im eigentlichen Sinne bereits Vergangenheit war: Immer noch brodelte es – wenn auch teils erst spät nachts. „Nothing happens before 2 am, ask for Clarence“, heisst es beim Eintrag des Clubs Hot-Cha.

 

Kein deutschsprachiges Buch lässt einen die Harlem Renaissance besser verstehen als „Die zerrissenen Jahre 1918-1938“ von Historiker Philipp Blom. Blom zeigt auf, wie die Afroamerikaner durch die Harlem Renaissance zu sich fanden.

„Teils kulturelles Erwachen, teils politische Bewegung, teils künstlerisches Statement, teils soziales Phänomen, beschreiben die Ereignisse, die hier [in Harlem] um 1922 herum stattfanden, einen wahrhaft historischen Moment: Eine ganze Bevölkerungsgruppe begriff sich selbst neu und gab sich selbst eine Identität, die nicht von aussen aufoktroyiert war […] Es war die erste wirkliche Ausformulierung einer afroamerikanischen Kultur, einer spezifischen Perspektive und Sprache, die den Erfahrungen von Amerikas Schwarzen gerecht werden konnten.“

„Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war Harlem ärmlich und heruntergekommen gewesen, das Resultat einer fehlgeschlagenen Immobilienspekulation. […] 1908 begann der afroamerikanische Unternehmer Philipp Payton mit seiner Afro-American Realty Company, leere Gebäude zu pachten, um sie an schwarze Familien zu vermieten, die als Teil der grossen Massenbewegung der Schwarzem vom Süden in den Norden nach New York gekommen war, um hier Jobs in der Industrie zu übernehmen oder um einfach nur der täglichen Brutalität des Rassismus in den Staaten zu entfliehen, in denen die sogenannten ‚Jim-Crow-Gesetze’ Rassismus und Segregation festgeschrieben hatten.“

„1920 waren 32 Prozent der Menschen in diesem Stadtteil afroamerikanischer Herkunft, zehn Jahre später waren es 70 Prozent.“

„Es war ein guter Moment für einen Neuanfang. Denn die Harlem Renaissance wäre nicht möglich gewesen ohne eine zweite und dritte Generation nach der Sklaverei, die bereit war, ihre eigene kulturelle Identität neu zu entdecken und eine eigene Stimme zu finden, und der die Erfahrung der schwarzen Soldaten im Ersten Weltkrieg neues, stärkeres Selbstvertrauen vermittelt hatte.“

Stellvertretend für das neue Selbstbewusstsein auch junger schwarzer Intellektueller und Kulturschaffender mag der bildende Künstler Aaron Douglas stehen, der in den 1920ern und 1930ern viele grossartige Bilder schuf.

Stolze Sätze von Aaron Douglas: „Wir glauben, dass [people of color] fundamental und [ihrem] Wesen nach anders [sind] als [ihre] nordischen Nachbarn. Wir sind stolz auf diesen Unterschied. Wir glauben, dass dieser Unterschied in einer grösseren spirituellen Fähigkeit, einer grösseren Sensibilität und einer grösseren Fähigkeit zu künstlerischem Ausdruck und künstlerischer Wahrnehmung besteht.“

Duke Ellington, aus Washington nach Harlem gezogen, sollte mit seiner Bigband der wichtigste musikalische Vertreter der Harlem Renaissance werden – nicht zuletzt, wie erwähnt, durch seine Auftritte im Cotton Club.

 

Cotton Club

Viel schickes Autoblech vor dem damaligen Hot Spot des New Yorker Nacht- und Musiklebens: dem Cotton Club. Drinnen wirkte der Duke mit seiner ‚Jungle Music’ und Stücken wie der ‚Black and Tan Fantasy’.

 

Cotton Club

 

Folgender kurzer 1-Minuten-Clip spricht von der Rolle Duke Ellingtons innerhalb der Harlem-Renaissance-Bewegung.

 


Youtube, Biography: Duke Ellington – Role in the Harlem Renaissance (YouTube, 1:03).

 

In dreieinhalb Minuten erzählt das nächste Video zusammenfassend das Wichtigste zur Harlem Renaissance.

 


History Brief: The Harlem Renaissance (YouTube, 3:20).

 

Jazz im Alkoholglas: Die Prohibition

Die 1920er-Jahre waren auch die Zeit der Prohibiton. Das meint, dass Alkohol in den USA von 1920 bis 1933 offiziell verboten war. Evangelikale Prediger und andere moralisch rigide denkende Kräfte sahen die amerikanische Seele vom Alkohol gefährdet. Diese Kräfte setzten sich vordergründig durch. Alkohol wurde von Gesetzes wegen verboten.

 

Polizei! Polizei! Alkohol wird während der Prohibition beschlagnahmt.

Polizei! Polizei! Alkohol wird während der Prohibition beschlagnahmt.

 

Doch in der „Schlacht um die Seele“ des Landes standen die ländlichen Prohibitionisten einem modernen, vergnügungsfreudigen Amerika des 20. Jahrhunderts gegenüber, das den Alkohol in der Halb- und Illegalität weiterströmen liess.

Mehr denn je. In abertausenden von illegalen Speakeasies (Flüsterkneipen) – nur schon im New Yorker Stadtteil Manhattan gab es in den 1920ern über tausend von ihnen– wurde Alkohol ausgeschenkt in rauen Mengen. Im illegalen Raum herrschte eine bislang niegekannte Freiheit. Es durchmischten sich Schwarz und Weiss. Es durchmischten sich die Geschlechter. Frauen lebten ungeahnte Freiheiten aus.

 

Und der Soundtrack in diesen Speakeasies? – Jazz!

Jazz konnte sich paradoxerweise gerade dank der Prohibition durchsetzen. Jazz war so also viel mehr als nur eine Musik. Er stand für neue urbane Werte aus dem 20. Jahrhundert gegenüber den konservativen des 19. Jahrhunderts.

Historiker Philipp Blom: „Der Kampf um die Prohibition in Amerika hatte Jahrzehnte gedauert. Gegner des ‚Teufels Alkohol’ hatten argumentiert, die Trunkenheit sei die Wurzel aller Übel in der Gesellschaft. Besonders in Arbeiterfamilien war es gang und gäbe, dass Männer am Zahltag einen Teil ihres kümmerlichen Lohns sofort versoffen, um anschliessend dann ihre Wut an ihren Familien auszulassen. Alkohol war ein Thema, bei dem Frauenrechtlerinnen, soziale Konservative, Sozialisten, fundamentalistische Prediger und sogar der Ku-Klux-Klan zusammenfinden konnten.“

„Die wichtigsten Ideologen der Prohibition kamen aus ländlichen Gegenden und wurden vor allem von den evangelikalen Kirchen unterstützt. Wie im Fall von Billy Sunday [eines fanatischen Predigers gegen den Alkohol] waren die Unterstützer oft Teil der ersten grossen Welle von europäischen Einwanderern im 19. Jahrhundert. Viele von ihnen waren Farmer, Pioniere aus stark protestantisch geprägten Gemeinschaften in den Präriestaaten.“

 

Ein Kulturkampf – nass oder trocken? Alkohol im Fadenkreuz. Zeitgenössisches Plakat um 1920.

Ein Kulturkampf – nass oder trocken? Alkohol im Fadenkreuz. Zeitgenössisches Plakat um 1920.

 

„Nach ihnen war eine andere Art von Einwanderern gekommen, oftmals aus Italien, Deutschland, Irland und Zentraleuropa. Sie hatten sich bevorzugt in Städten niedergelassen, waren mehrheitlich katholisch und betrachteten Alkohol als einen festen Bestandteil des täglichen Lebens.“

„Die grosse Kampagne für ein neues Amerika und eine Erneuerung der amerikanischen Moral war in Wirklichkeit auch ein Kampf des alten, ländlichen Amerika, das an Einfluss verlor, gegen ein neues, städtisches, der Kampf des 19. Gegen das 20. Jahrhundert.“

„Auf der einen Seite standen Werte, die oft als traditionell bezeichnet wurden, obwohl sie oft nicht älter als eine Generation waren. Auf der anderen standen Speakeasies, Zigaretten, Jazz, ‚petting parties’, kurze Röcke, kurze Haare und enge Tänze.“

 

In Speakeasies sprach eigentlich niemand leise! Im Gegenteil, es ging hoch und laut zu und her.

In Speakeasies sprach eigentlich niemand leise! Im Gegenteil, es ging hoch und laut zu und her.

 

„Von nun an war der Siegeszug des Jazz und der afroamerikanischen Kultur nicht mehr aufzuhalten. Platten und Konzertreisen schufen mehr und mehr Fans für die Musik, die ihre Zeit widerspiegelte wie keine andere und deren Kraft in ihrer Flexibilität lag. Black Cool, Rock’n’Roll, Soul und später auch Rap, Hip Hop und die Gangsta-Kultur sind ebenfalls späte Früchte der Prohibition.“

Und Duke Ellington? Er kam gerade in der illegalen Kultur der Speakeasies der 1920er hoch. Der einzige freilich war er nicht dabei: „Louis Armstrong und Ella Fitzgerald, Jelly Roll Morton, Duke Ellington und Hoagy Carmichael, Fats Waller und Sidney Bechet hatten alle ihre Karrieren in dieser aufgeladenen Atmosphäre [der Speakeasies] aus Alkohol, Drogen und Delirium begonnen.“

Im Folgenden eine Filmdokumentation zur Prohibition und zum Jazz im Amerika der 1920er. „The Century: America’s Time – 1920-1929: Boom To Bust“. Dauer: 45 Minuten.

 


American Broadcasting Company: The Century: Americas Time – 1920–1929: Boom To Bust (YouTube, 46:13).

 

Schwarze Übergrösse Ellington besucht die Schweiz

 

Duke Ellington Portrait

 

Duke Ellington war gegen Ende seines Lebens (er starb 1974) ein Elder Statesman des Jazz. Die Jazzmusiker hatten unendlichen Respekt vor diesem Vater alles orchestralen Jazz – namentlich John Coltrane, der bei seiner Einspielung des Albums „Duke Ellington & John Coltrane“ (1963 fürs Label Impulse) Ellington voller Schüchternheit begegnete.

Und kein Wunder, sind heute in New York Strassen nach Ellington benannt. Im Quartier Spanish Harlem findet sich auch eine Statue Ellingtons inklusive Klavier!

 

Buchstäblich wie ein schwarzer Säulenheiliger: Duke Ellington, fast schon über den Wolken. (Bild: Merki).

Buchstäblich wie ein schwarzer Säulenheiliger: Duke Ellington, fast schon über den Wolken. (Bild: Merki).

 

Übervater Ellington war auch zu Besuch in der Schweiz! Mehrfach sogar. So etwa 1950 oder 1959.

 

Ellington 1950 in Zürich: Das Konzert ist auch als Platte herausgekommen, auf dem Montreux Jazzlabel TCB (43062 /2007).

Ellington 1950 in Zürich: Das Konzert ist auch als Platte herausgekommen, auf dem Montreux Jazzlabel TCB (43062 /2007).

 

Das Schweizer Fernsehen war dabei bei einem Konzert 1959 in Zürich, der 43-minütige Mitschnitt im Folgenden zeugt davon. Wie bei jedem Auftritt umschmeichelt der Charmeur Duke Ellington zu Beginn sein Publikum: „The kids want you to know that we love you madly!“ Ob das bei den Zürchern ankam? Man schaue sich wenigstens den Auftakt zum Konzert an.

 


Duke Ellington Orchestra (1959, Switzerland) (YouTube, 43:05).

 

3 Filmdokus zur Ellington-Saga

 

Film

Einen Überblick über die Ellington-Saga mit viel Originalmaterial bietet „On the Road With Duke Ellington“, ein Roadmovie aus dem Jahr 1967. Eine Stunde begleiten wir den Duke.

 


Robert Drew: «On the Road with Duke Ellington» (1967) (YouTube, 58:36).

 

„Reminiscing In Tempo“, eine PBS-Dokumentation über Duke Ellington von 1991.

 


PBS: Reminiscing in Tempo. Duke Ellington Documentary (YouTube, 1:24:45).

 

Literatur

Buchcover: Philipp Blom: Die zerrissenen Jahre. 1918-1938, Hanser, 2014.
Buchtipp
Philipp Blom: Die zerrissenen Jahre 1918-1938 (Hanser 2014).

Wie wenige Historiker vermag Philipp Blom die Kulturgeschichte Europas und der USA im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts verständlich zu machen. Was für ein Glück, dass er sich auch für den Jazz interessiert – ihn in seinem hinreissenden Buch „Die zerrissenen Jahre 1918-1938“ als Soundtrack einer neu entstehenden Welt beschreibt. Dank Blom verstehen wir, wie Jazz im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts zu einer weit übers Musikalische hinausgehenden Botschaft wurde. Jazz: Modern, urban, heissblütig. Evangelium einer neu anbrechenden Zeit.

Verwendete Literatur

[1]
Hans-Jürgen Schaal: Jazz-Standards. Das Lexikon. ( (2001, Kassel).
[2]
Scott DeVeaux/Gary Giddins: Jazz – Essential Listening (2011, New York).
[3]
Philipp Blom: Die zerrissenen Jahre 1918-1938 (Hanser 2014).

Zum Titelbild dieser Seite

Das farbenfrohe Bild „Hot Rhythm“ stammt von Archibald John Motley (1891 bis 1981). Motley war ein afroamerikanischer bildender Künstler, er gilt als Chronist des afroamerikanischen Lebens in den 1920ern und 1930ern. Das retrospektive „Hot Rhythm“ stammt aber erst von 1961.